“Willkommenskultur” oder “Ausländer raus”? Fast scheint es, als gäbe es gesellschaftlich auch in diesem Themenkomplex nur noch Schwarz-Weiß-Malerei. Als studierter Migrationssoziologe, aber vor allem als Praktiker in diesem Bereich wagt Michael Nußbaumer für Stichpunkt eine weltoffene und menschenfreundliche Differenzierung: Eindrücklich beschreibt er seine jahrzehntelange Reise durch die Thematik, seine Perspektivenwechsel, Gefühle und Erkenntnisse. Sowohl “kein Mensch ist illegal” als auch die Berechtigung von Grenzen finden hier ihren Platz. 

Ein innerer Dialog von Michael Nußbaumer 

Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts setzte ich mich in einen Hörsaal im Labyrinth der Wiener Hauptuni in einen Vortrag von Amnesty International. Die Darstellung über die Schubhaftbedingungen von Flüchtlingen in Österreich trafen etwas tief in mir, eine Erschütterung, die mich in Bewegung brachte und zu einem langjährigen Engagement mit zahlreichen Stationen führte. Ich war damals Soziologie- und Publizistikstudent, von Vorarlberg über Salzburg nach Wien gewandert – es war die Zeit des (Anti-) Ausländer Volksbegehrens der FPÖ und später des „Lichtermeers“ am Wiener Heldenplatz. An beiden beteiligte ich mich nicht, sehr wohl aber ehrenamtlich an der Amnesty-Flüchtlingsgruppe.

Wir besuchten Menschen in Schubhaftgefängnissen, um sie rechtlich zu beraten und um ihnen Hygiene-Produkte wie Seifen und Zahnbürsten zu bringen, die ihnen nicht zur Verfügung gestellt wurden! Die Wiener Polizeigefangenenhäuser, in denen die Schubhäftlinge saßen, waren nicht für längere Aufenthalte ausgelegt und die Haftbedingungen sehr schlecht, beengt, keine Möglichkeiten für Aktivitäten. Hier saßen Menschen bis zu einem halben Jahr ihres Lebens unter unwürdigen Bedingungen, teilweise obwohl klar war, dass der Zweck dieses Freiheitsentzuges nicht erreicht werden konnte: nämlich sie außer Landes zu bringen. Weil klar war, dass ihr Herkunftsland sie nicht zurücknehmen würde oder weil es menschenrechtliche Hinderungsgründe für eine Rückkehr gab. 

Schubhaft ist keine Strafhaft, es geht darum zu sichern, dass Menschen ohne Aufenthaltstitel „zurückgeschoben“ werden. In der Praxis war die „Bestrafung“ aber härter als in normalen Gefängnissen und die Dauer war damals völlig unangemessen. All dies diente der Abschreckung. 

Verhältnisse in Schubhaft – das darf doch nicht wahr sein! 

Mitte der Neunziger hatte ich jedenfalls genug erlebt und recherchiert, um gute Gründe für mein Entsetzen zu haben, wie mein Land Menschen auf der Flucht behandelte. Ich war mir sicher, wenn mehr Menschen erfahren würden, wie es wirklich aussah, würde sich die Politik ändern (müssen)! Und so ersannen wir jede Menge Aktionen, um Aufmerksamkeit zu generieren … doch oft, wenn ich an einem der Schubhaftgefängnisse vorbei ging, überlegte ich, wie ich anderen Menschen wirklich anschaulich verdeutlichen könnte, was hinter diesen Mauern geschieht. Den meisten war oder schien es egal. Das tat weh. 

Wenn wir Migration, also „Wanderungsbewegungen“, ganz umfassend betrachten und das eigene Leben selbstverständlich miteinbeziehen, so hatte mein Engagement einen interessanten Effekt auf mich: Ich bewegte mich aus der Community der „Vorarlberger in Wien“ in die größere Gesellschaft hinein und es entstanden Erfahrungen und Beziehungen, die für meine Verankerung in Wien noch wichtig werden würden. Was für Vorarlberger Binnenmigranten wie mich gilt, ist auch in der Migrationswissenschaft ein altbekanntes Muster: Zuerst landen die meisten Menschen in der Fremde in einer Auffang-Community, dann, wenn die Integration klappt, nehmen sie mehr und mehr Beziehungen mit Menschen außerhalb der Community auf, bis sie sich vielleicht sogar ganz aus dieser lösen. 

Oft wird das Phänomen der menschlichen Wanderungsbewegungen mittels grober Wir-gegen-Die-Strukturen eingeteilt oder ausschließlich mit moralischen Lupen von Willkommenskultur versus Festungsmentalität betrachtet. Mit solchen groben Filtern verzerren wir aber unser eigenes Erleben! 

Flüchtlingskrise 2015 – mein Polsprung 

Zeitsprung nach 2015: Mehr als zwanzig Jahre später bin ich mit meiner Frau auf der Rückreise von Bukarest nach Wien. Kurz zuvor hieß es noch, dass aufgrund der Flüchtlingskrise der Zugverkehr eingestellt worden sei. Wir hatten keine Nachrichten gelesen und sind überrascht, ja, erschrocken. Schließlich fährt doch ein Zug nach Wien, wir sehen aber immer wieder viele Menschen, vor allem junge Männer, die sich mit wenig Gepäck Richtung Westen bewegen. Das „No Border, No Nation“ und das „Freie Fluten“, für das ich in früheren Lebensphasen große Sympathien hegte, tritt in den Hintergrund und Begriffe wie „Überflutung“ oder „Völkerwanderung“ tauchen in meinem Bewusstsein auf und sie machen mir Angst, jedenfalls Sorge. Zurück in Wien helfen viele Freunde und Bekannte an den Bahnhöfen, ehrenamtlich, als Zivilgesellschaft, um den Menschen aus Syrien, Afghanistan, Irak und so weiter einen guten Empfang zu bereiten. Vermutlich ist in ihnen etwas Ähnliches wachgerüttelt worden, wie bei mir Jahrzehnte zuvor. 

Doch diesmal teile ich den Impuls nicht, nehme eher Abwehrbilder und Ängste wahr. Zu viel! Ich fühle Beschämung, aber ich unterdrücke nichts. Und erkenne, dass sich die Gelegenheit bietet, beide Pole des Spektrums in mir wahrzunehmen. Plötzlich verstehe ich die Menschen, die sich gegen „noch mehr Fremde“ wehren, die nichts Gutes in ihnen erkennen wollen. Und eine neue Scham taucht in mir auf, nämlich wie stark ich derlei Gedanken und Gefühle bei anderen bekämpft und abgewertet habe. Es ist aber eine befreiende Scham, ich kann, mitten im Kampfgetümmel der „Ausländerfeinde“ gegen die „Willkommensklatscher“ aus dieser Kampfrhetorik aussteigen. Und begreife, dass das Entwerten und Bekämpfen einer Menschengruppe ein Muster ist, dessen Adressat austauschbar ist. Ob nun „rechte Menschen“ „Ausländer“ loswerden wollen oder „linke Menschen“ „rechte Menschen“ ist vom Gedankenmuster kein Unterschied! 

2015 weiß ich nicht, wie „wir“ mit dieser Situation umgehen sollen, nehme einfach nur fühlend wahr: Die, die in den Ankommenden nur das Böse sehen und die, die nur das Gute sehen, die, die in ihrem Engagement ausbrennen, und die, die aus dem Ganzen ihren Nutzen ziehen wollen. Die, die sich nicht engagieren und deswegen ein schlechtes Gewissen haben und die, die einen kühlen Kopf bewahren und das Notwendige tun. Ich bleibe untätig, bis sich klare Impulse zeigen. Dann tue ich, was ich kann, an der Position, in die mich meine Lebensreise gebracht hat. Ich schreibe differenzierte Artikel, ich biete vergünstigt meine Arbeit als Teamsupervisor für sich neuformierende Teams in der Flüchtlingshilfe an und sammle so viele Erfahrungen mit der Situation. 

Und ich arbeite an einer Projektidee mit, die auf Gemeindeebene Gesprächsräume zum Verarbeiten und Kennenlernen schaffen will, weil ich imstande bin, vieles in mir zu hören und nichts davon zu verurteilen: der Wille zu helfen und gastfreundlich zu sein, der Wille, die eigene Gemeinschaft in ihrer derzeitigen Form zu bewahren, der Wille, an einem neuen Ort zu leben. Das Projekt scheitert schließlich an der Finanzierung, was ich schade finde, denn meine „neue Möglichkeit“ nicht mehr in Lagern zu denken, will sich nützlich machen, aber ehrenamtliches Engagement ist nicht mehr dran zu diesem Zeitpunkt meines Lebens. Auch dazu kann ich stehen. 

Ist die Desintegrationspolitik beabsichtigt? 

Wieder ein Zeitsprung zurück, rund um die Jahrtausendwende. Für meine Diplomarbeit studiere ich nicht nur Gesetze und die Geschichte von Arbeitsmigration und Flucht nach Österreich, sondern verbringe einen Monat bei der Ausländerberatungsstelle in Dornbirn, die übrigens auch Empfängerin einer Briefbombe war. All das bislang Verstandene und Erfahrene führt mich zu der These, dass wir es mit einer Desintegrationspolitik zu tun haben – ob absichtlich oder nicht. Diese Politik mündet ständig in neue Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen und erodiert den Zusammenhalt, wovon einige wenige profitieren, zumindest kurzfristig. Die „Gastarbeiter-Politik“, die ja mit gezielter Anwerbung gestartet hat, schuf eine Schicht von Arbeitern mit verminderten Rechten, deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft gar nicht gewünscht war. Die Familien wurden übrigens erst dann nachgeholt, als der Aufenthalt in Österreich erschwert wurde, eine der vielen paradoxen und ungeplanten Folgen von „harten Maßnahmen“. 

Ich verstehe, dass Steuerung nicht funktioniert, weil sie Menschen wie Objekte behandelt, nicht wie Subjekte. Ich verstehe auch, dass Rechte nicht teilbar sind. Wenn ich einem Teil der Menschen in einem Land essentielle Rechte vorenthalte, verschlechtere ich auf lange Sicht die Rechtslage für alle. Doch immer, wenn ich etwas verstanden habe und glaube, nun ein mehr oder weniger „vollständiges Bild“ der Thematik zu haben, werde ich eines Besseren belehrt.

Immer ist das Leben widersprüchlicher und facettenreicher, als ich gedacht habe, und immer hat alles mehr mit mir zu tun, als mir das manchmal lieb ist. 

Ob das in Vukovar ist, der kriegszerstörten Stadt, in der ich meinen eineinhalbjährigen Auslandszivildienst leiste, wo ich helfen will, damit auf mich selbst zurückgeworfen werde und selbst viel Hilfe erfahre. Ob das in der Deserteurs-Beratung Wien ist, wo ich Deserteure aus Jugoslawien berate und Flüchtlinge aus anderen Ländern und erfahre, zum Glück, dass sich immer wieder Wege auftun, dass überall Menschlichkeit und Unmenschlichkeit sind, Verbindung und Unverständnis und dass jeder Mensch sein ganz eigenes, „maßgeschneidertes“ Schicksal hat. Oder auch bei der Asylkoordination, wo ich Workshops gebe zur Bekämpfung von Vorurteilen und mich allmählich zu einem „Gastgeber“ wandle, der Raum geben kann für so viele Perspektiven, die einfach sein dürfen. Und auf diese Weise manchmal wundersam zusammenfinden … 

Ich bin (k)ein Flüchtling – die Identifikation beginnt sich zu lösen 

Zeitsprung in die Mitte des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends. Ich arbeite in einem Hauptschulabschlusskurs mit Menschen aus allen Erdteilen, die einen Schulabschluss in Österreich brauchen. Wir haben hier eine Palette von Menschen, deren Abschlüsse nicht anerkannt werden, die aber mehr als Matura-Niveau (Abitur) haben, bis hin zu Menschen, die kaum alphabetisiert sind. Von österreichischen Schulabbrechern, bis zu Flüchtlingen aus Osteuropa, Asien, Lateinamerika und Afrika. Was braucht es, um eine solche diverse Gruppe in ein Lernteam zu verwandeln? 

Wir nehmen uns einen ganzen Monat Zeit, einen kostbaren Monat, bevor wir damit beginnen, „Stoff zu lernen“. Mit dieser Priorität des sozialen Lernens schaffen wir ein stabiles Fundament, inklusive demokratischer Elemente wie einer Art wöchentliches Klassenparlament. Man könnte sagen, wir folgen der Erkenntnis, dass es angesichts der fortschreitenden gesellschaftlichen Desintegration bewusstes Community- oder Teambuilding braucht. Und, es klappt! Nicht nur ist die Atmosphäre für das Lernen sehr gut, auch die Zahlen stimmen, wir haben höhere Erfolgsraten als vergleichbare Institute. Dennoch wird nach zwei Jahren die Förderung nicht verlängert … 

Zu dieser Zeit lebe ich mit meiner frisch gegründeten Familie im niederösterreichischen Weinviertel, ich fühle mich wohl, aber so richtig zu Hause bin ich hier nicht. Da entwickelt sich in meinem Auge ein Gerstenkorn und ich muss es mir in einem unangenehmen Eingriff entfernen lassen. Zwei Wochen später ist es wieder da und mir ist klar, ich muss in tiefere Schichten gehen, also konsultiere ich eine Homöopathin. Nach einer längeren, tiefschichtigen Befragung ruft sie aus: „Aber Sie sind ja ein Flüchtling!“ und ich fühle mich gesehen und kann mich so selbst sehen. Mir wird klar, dass ich nicht nur im Weinviertel nicht heimisch bin, sondern dieses Gefühl schon seit meiner Kindheit mit mir herumtrage. Die Erschütterung, die ich bei dem anfangs erwähnten Vortrag an der Wiener Uni erfahren habe, war eine Resonanz – weil es Anteile in mir gibt, die sich als auf der Flucht, als fremd und nicht zugehörig und willkommen empfinden. Es ist eine Überraschung und eine Erleichterung. Viel äußere und innere Arbeit war notwendig, dass ich zu dieser Erkenntnis kommen konnte. 

Das Gerstenkorn verschwindet und kehrt nie wieder und auch meine Identifikation mit Fremden und Geflüchteten löst sich. Das bedeutet natürlich nicht, dass mich die Schicksale anderer Menschen nicht mehr kümmern, oder dass sich mein Blick auf Migration und Flucht seit damals völlig gewendet hat. Aber ich muss das Thema nicht mehr emotional aufladen, nicht mit meinen projizierten Ängsten und Wünschen überdecken. Das ist Integrationsarbeit im Inneren! 

Was du nährst, wächst! 

Migration und Flucht ist ein Aspekt eines unüberschaubaren riesigen Ganzen namens Weltgesellschaft oder menschliches Bewusstsein – und alle ungelösten Themen spiegeln sich darin wider. Es gibt „Mega-Strukturen” – wie zum Beispiel Turbokapitalismus, Neoliberalismus, und viele mehr – die das menschliche Miteinander, ja die Menschlichkeit selbst unter Druck setzen, anstatt sie zu fördern. Was bedeutet gelebte Menschlichkeit? Nicht, dass WIR gut zu DENEN sein sollen – sondern die Einsicht, dass Alles unteilbar ist. Ein Beispiel: Wenn wir Gängelung durch immer mehr Bürokratie und kleinliche Regelungen ablehnen, können wir diese nicht gegenüber Migranten und Migrantinnen fordern – weil das früher oder später auf uns alle zurückfallen wird. Die Teilung zwischen WIR und DIE ist eine Fiktion! Unteilbarkeit ist keine moralische Idee, sondern ein Prinzip der Wirklichkeit. 

Damit will ich nicht sagen, dass Grenzen keinen Wert haben (sollten). Je stärker ich in meinem Leben fähig wurde, gut auf meine Grenzen zu achten, desto weniger ist das Konzept des „freien Flutens“ attraktiv für mich. Aber ist die Staatsgrenze wirklich meine Grenze? Doch ich bemerke, wie ich versuche allgemeingültige Lösungen zu finden und darin scheitern muss, weil das weder in meiner Verantwortung noch in meiner Kompetenz liegt. Ich ringe um Konsistenz in meinem Fühlen, Denken, Sprechen und Handeln, versuche diese aber auf der falschen Ebene zu erreichen und zerschelle so an kollektiven Widersprüchen. Auf dieser Ebene gibt es (fast) nur Verlierer: Die einen verlieren ihre Heimat, weil sie durch die Zerstörungskraft der „großen Maschine“ unbewohnbar wird, die anderen verlieren ein Stück Heimat, weil sie ihre Stadt kaum mehr wiedererkennen. 

Also tauche ich wieder in die Welt der Erfahrung ein. Und hier, so banal das klingen mag, begegne ich immer „nur“ Menschen, in all ihren Facetten, die sich mit Strukturen arrangieren oder diese verkörpern oder diese verändern wollen, meist alles gleichzeitig. So wie ich.

Jeder Mensch ist eine Bereicherung und eine Zumutung – so wie ich. Das Leben jedes Menschen ist eine einzigartige Reise – so wie Deines! 

Michael Nußbaumer schreibt Romane und Fachbücher, er ist Moderator, Speaker und Supervisor und leitet das Labor für Kulturtransformation. www.michaelnussbaumer.info, www.kulturtransformation.net