Das herkömmliche Schulsystem steht zunehmend in der Kritik. Immer mehr Kinder leiden unter Schulangst. Parallel dazu gibt es eine wachsende Bewegung, die Schülern freie Bildung ermöglicht – etwa in Form von Lernorten wie LOTUS – Freie Schule Seenland. 

„Kinder lernen vom Augenblick der Geburt an“, heißt es auf der Homepage der Freien Schule Seenland. „Lernen ist ein natürlicher Prozess, der geschieht, wenn Menschen sich mit Begeisterung und Freude einer sinnstiftenden Tätigkeit hingeben.“ Elisabeth Wasserbauer hat 2021 gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten und zwei befreundeten Paaren eine Schule nach ihren Vorstellungen gegründet. „Kinder lernen ganz alleine zu gehen und zu sprechen, also werden sie auch in ihrem eigenen Tempo lesen und schreiben lernen“, ist die Mutter zweier Kinder überzeugt.   

Schulsystem in der Krise

Das öffentliche Schulsystem steht seit Jahren in der Kritik: Ein veralteter Frontalunterricht, überforderte Lehrer, der Fokus auf Schwächen statt auf Stärken, Leistungsdruck verbunden mit einem starren Notensystem. Ein Bildungssystem, das seit einer Schulreform durch Kaiserin Maria Theresia im Jahr 1774 kaum Änderungen erfahren hat. Immer mehr Kinder leiden unter Schulangst: Die Beratungs-Hotline „Rat auf Draht“ berichtet, dass die Zahl der Kinder, die den Unterricht nicht besuchen wollen, im vergangenen Schuljahr dramatisch angestiegen sei. Demgegenüber steht eine wachsende Anzahl an Eltern, die ihren Kindern eine andere Art des Lernens ermöglichen wollen. Die unerträglichen Unterrichtsbedingungen während der Corona-Jahre haben diese Entwicklung beschleunigt – während jener Zeit meldeten so viele Eltern wie noch nie ihre Kinder von der Schule ab. 

Eine wachsende Anzahl an Alternativen ermöglicht Kindern und Jugendlichen freie Bildung – das Angebot reicht von Freilernern über Lerngruppen bis hin zu freien Schulen. An der LOTUS- Schule – die Abkürzung bedeutet Lernraum für Offenes Tun Und Sein – gibt es Angebote für die Schüler, aber keinen fixen Stundenplan. „Wir haben die Idee einige Jahre mit uns herumgetragen, bevor wir 2019 mit den Vorbereitungen begannen“, erzählt Mitgründerin Elisabeth Wasserbauer. Das bedeutet: Ein pädagogisches Konzept und Organisationsstatut wurde erarbeitet und bei der Bildungsdirektion eingereicht. „Der große Vorteil in Österreich ist, dass eine private Schulgründung möglich ist – das ist nicht in allen Ländern so“, erklärt Wasserbauer. Bei der Gründung half, dass sich „die richtigen Leute“ fanden: „Unter den Gründern befinden sich zwei Pädagogen sowie ein Visionär, der bereits eine Schule in Nepal gegründet hat.“ Wasserbauer selbst war Geschäftsführerin der Österreichischen Medienakademie, bevor sie in Karenz ging. „Ich hatte immer schon den Hang zum Weltverbessern“, lacht die Oberösterreicherin. „Und ich probiere lieber etwas Neues aus, als über das Alte zu jammern.“   

Natur, Gemeinschaft und Achtsamkeit

Der Unterricht an der LOTUS-Schule orientiert sich am Glocksee-Lehrplan der gleichnamigen freien Schule in Hannover und besteht vor allem aus Angeboten des Lehrpersonals an die Schüler. Das bedeutet: Es gibt keinen starren Schulstundenrhythmus, keine Fächereinteilung, weder Leistungstests noch Zeugnisse und kein Sitzenbleiben. Auch eine Intervention der Lehrer in die freien Lern- und Spielentscheidungen der Kinder wird vermieden. „Die potentielle Fähigkeit der Kinder zur Wahrnehmung ihrer eigenen Bedürfnisse wird bejaht und unterstützt“, heißt es auf der Homepage der LOTUS- Schule. 

Die Schule wird als altersgemischte Gesamtgruppe geführt, alle Kinder zwischen 6 und 15 Jahren arbeiten sowohl gemeinsam als auch in kleinen projektbezogenen Gruppen und lernen auf diese Weise voneinander. Aus dem Tagesablauf, den Projekten und den Interessen der Kinder ergeben sich unterschiedliche Gruppenkonstellationen, wobei die Schüler von Lernbegleitern unterstützt werden. „Einer unserer letzten Schwerpunkte war das Thema Tiere“, erklärt Elisabeth Wasserbauer. „Das beinhaltet Lerninhalte aus den Bereichen Biologie, Geographie und Ökologie.“ Natur, Gemeinschaft und Achtsamkeit sind die drei Hauptsäulen des Unterrichts, auf lebensnahe Erfahrungen wird Wert gelegt: So backte eine Gruppe von Schülern Pizza nach eigenem Rezept, eine andere baute ein Baumhaus. Struktur für die Schüler bieten ein gemeinsamer Start und Abschluss des Tages. 

 „Lesen, schreiben und rechnen lernen die allermeisten Kinder ganz von selbst, in ihrem eigenen Tempo“, so Wasserbauer. „Falls ein Kind im Alter von sieben oder acht Jahren noch nicht lesen und schreiben kann, schauen wir uns mit den Eltern gemeinsam an, wo die Gründe dafür liegen könnten.“ Zweimal im Jahr gibt es einen Entwicklungsbericht sowie ein Gespräch mit den Eltern. 

Beim pädagogischen Konzept haben die Gründer sich an Vorreitern wie Maria Montessori, Rudolf Steiner oder Gerald Hüther orientiert. Der deutsche Hirnforscher wünscht sich Schulen als „Entdeckungswerkstätten“. „Das Hirn ist kein Muskel, den man trainieren kann, indem man viel übt“, sagt Hüther. „Im Hirn passiert immer erst dann etwas, wenn der Lernende das für sich selbst als wichtig beurteilt.“  

Schule mit Öffentlichkeitsrecht

„Zu Beginn waren wir mit 20 Kindern in einem großen Yogaraum. Heute sind es schon 35 Schüler und Schülerinnen im Pflichtschulalter“, erzählt Elisabeth Wasserbauer. Vor einem Jahr ist die Schule von Seekirchen am Wallersee nach Lochen am See in einen ehemaligen Kindergarten übersiedelt. „Dort haben wir mehr Platz und einen großen Garten.“ LOTUS – Freie Schule Seenland ist eine Schule mit Öffentlichkeitsrecht und in freier Trägerschaft, die Eltern verwalten und organisieren die Schule selbst. „Jeder Elternteil bringt sich mit 30 Stunden pro Semester ein, die Arbeiten reichen von Putzen bis zur Öffentlichkeitsarbeit“, so Wasserbauer. Das Schulgeld beträgt 355 Euro pro Monat plus 30 Euro Jausengeld. „Wir hatten die Idee eines sozial gestaffelten Schulgeldes, haben aber bisher keine Sponsoren gefunden“, bedauert Wasserbauer. Freie Schulen müssen sich komplett selbst erhalten, die Förderung durch den Staat ist marginal – ein Umstand, der seit Jahren kritisiert wird. Während Lehrer in konfessionellen Privatschulen vom Staat finanziert werden, müssen freie Schulen das Geld für ihre Pädagogen selbst aufbringen – sprich, die Eltern. „Unser Kompromiss war, dass die Lernbegleiter weniger verdienen als Lehrer an öffentlichen Schulen, um das Schulgeld so niedrig wie möglich zu halten“, ergänzt die Schulgründerin. „Darin inkludiert sind auch Materialkosten.“ 

Der Förderverband Freier Schulen schreibt auf seiner Homepage: „Schulen in freier Trägerschaft sollen als gleichwertiger Bestandteil des österreichischen Bildungswesens in allen Bereichen gleichberechtigt werden. Bis jetzt fehlt dafür eine rechtlich abgesicherte, finanzielle Existenzsicherung auf der Basis eines vertraglich gesicherten Kostenersatzes für das pädagogische Personal.“  

Viel Aufwand, wenig Geld

Elisabeth Wasserbauer hat viel Zeit in die Schulgründung investiert und berufliche Ziele hintangestellt. „Während der Gründungszeit habe ich nächtelang Mails an meine Partner geschrieben.“ Sie befindet sich in einer beruflichen Neuorientierungsphase, für die Schule arbeitet sie ehrenamtlich. „Das bedeutet, dass ich mit wenig Geld auskomme und meine Lebenshaltungskosten reduziert habe.“ Die zweifache Mutter lebt mit ihrer Familie in einem Haus mit Garten, baut selbst Gemüse und Kräuter an. „Meine Kleider kaufe ich auf Flohmärkten“, erzählt die 47-Jährige und ihre Augen leuchten, als sie vom Sommerfest in der Schule mit 100 Gästen erzählt. 

Die Mühe hat sich ausgezahlt, Eltern und Schüler sind zufrieden. Und die Zahl der Schüler wächst: Nächsten Herbst werden bereits 43 Kinder und Jugendliche die LOTUS- Schule besuchen. 

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