(Anm. d. Red. Der Artikel erschien bereits am 23.3.2021 auf frischesicht.de. Aufgrund der jüngsten Ereignisse möchten wir diesen, aus Sicht der Redaktion sehr aktuellen Beitrag, nochmals publizieren.)
In Katastrophen- und Krisenzeiten kommt es vermehrt zu Mobbing. Sieht man Mobbing als Modebegriff an, verharmlost man damit ein Phänomen, das man als Angriffskrieg auf das Gebiet „Gesunde zwischenmenschliche Beziehungen“ bezeichnen kann. Mobbing ist der Lackmustest für die psycho-soziale Gesundheit einer Gesellschaft und betrifft alle Menschen, nicht nur Außenseiter oder Randgruppen. Ignoriert und bagatellisiert man das Phänomen, nimmt man billigend psycho-soziale Kollateralschäden in Kauf.
In dem Science-Fiction-Film „Tötet all Anderen“ („Kill all others“, 2017) von Dee Rees, wird eindrucksvoll gezeigt, wie ein ganz normaler Mann, der sich nichts hat zuschulden kommen lassen, gemobbt und schließlich öffentlich gehängt wird. Wie wurde er zum Ziel? Er hatte sich als Einziger darüber gewundert, dass ein Mann tot am Laternenpfahl hängt, nachdem ein Politiker öffentlich zu Gewalt aufgerufen hatte, alle Vorbeigehenden dies jedoch ignorierten. Die Vorlage für den Film gab die Science-Fiction-Kurzgeschichte „The Hanging Stranger“ von Philip K. Dick aus dem Jahr 1953, die sich mit der Frage beschäftigte, wie faschistische Strukturen entstehen und was sie beschleunigt. Das ist ein starkes Bild und man mag sich kaum vorstellen, dass so etwas in der aktuellen Zeit und in einer demokratisch scheinenden Gesellschaft passiert. Doch es geht schneller als gedacht, insbesondere dann, wenn man ein Phänomen ignoriert und nicht versteht, was man heute als Mobbing bezeichnet.
In diesem Artikel soll dieses Phänomen beschrieben und untersucht werden, welche Mechanismen dazu führen, dass eine ganze Gesellschaft zum „Mob“ wird und sich beinahe wie automatisch an Gewalt gegen Andere beteiligt, unterstützt von Politik und Medien. Etwas salopp ausgedrückt kann man sagen:
Hat eine Gesellschaft Mobbing, hat sie ein Problem.
Aktuell steht ganz wesentlich die körperliche Gesundheit im Vordergrund. Es werden täglich neue Zahlen, Daten, und Fakten präsentiert, die je nach Wissensstand, Erfahrung und Lebensperspektive unterschiedlich interpretiert werden. Scheinbar völlig unbemerkt breitet sich jedoch die psychische und soziale Not aufgrund des extremen und lang andauernden Stresses, den eine so genannte Pandemie bedeutet, aus. Nach beinahe einem Jahr Ausnahmezustand zeigen sich jedoch die ersten schwerwiegenden Folgen auf psychisch-sozialer Ebene. Geht man von den Zahlen aus, die man nach Naturkatastrophen oder Terroranschlägen erhoben hat, ist zu erwarten, dass die Anzahl an Depressionen, Selbstmorden und aggressivem Verhalten extrem zunehmen wird. Kümmert man sich jetzt nicht darum, kann das ähnlich wie bei einer verschleppten Krankheit Spätfolgen haben, die zum gesundheitlichen Kollaps einer ganzen Gesellschaft führen können (1).
Ein Indikator für die psycho-soziale Schwersterkrankung einer Gesellschaft ist ein Phänomen, das gleichzeitig bagatellisiert sowie tabuisiert wird: Mobbing.
Mobbing – Wer, Wie, Was?
„Sich auf eine Person einschießen“ sagt man, wenn man beschreiben will, dass jemand genau ins Visier genommen wird, damit man ihn ständig bedrängen, attackieren und schließlich vernichten kann. „Mediale Kugeln“ hat der Sänger Kilez More die Strategie von Medien genannt, jeden Andersdenkenden so zu beschädigen, dass dessen soziales Ansehen und Existenz zerstört sind. Man bezeichnet das auch als Rufmord. Deshalb scheint es zwar provokant zu sagen, dass Mobbing tötet, doch das entspricht nicht nur den Kenntnissen aus der Forschung, sondern es ist nahe an den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen und es besteht die Gefahr, sich so weit von humanistischen und moralischen Idealen zu entfernen wie lange nicht mehr.
Deshalb ist es absolut notwendig, ein Wissen davon zu erlangen, was Mobbing ist und wie es üblicherweise abläuft, denn das großflächige Vorkommen von Mobbing, das per defintionem immer das Angreifen, Attackieren, Diffamieren und Unmöglichmachen einer Person über einen längeren Zeitraum hinweg meint, zeigt an, dass eine Gesellschaft ein tiefgehendes Problem auf der Ebene der Beziehungen der Menschen untereinander hat. Das Ziel von Mobbing ist Ausgrenzung und Vernichtung. Vorher hört es nicht auf.
Mobbing sabotiert also einen wichtigen Grundwert: Das Recht auf Existenz.
Der Mensch ist ein soziales Wesen, und das bedeutet konkret, dass er ohne gesunde Beziehungen nicht leben kann. Darum lautet die erste schlechte Nachricht: Mobbing kann tatsächlich tödlich enden. Mobbing kann dazu führen, dass jemand keinen anderen Ausweg mehr sieht als sich das Leben zu nehmen. Das betrifft jede Alters- und Statusgruppe, nicht nur Schüler, die in der Schule, auf der Straße oder im Internet gemobbt werden. Außerdem kann Mobbing zu Mord führen, wenn die Macht der Worte allein nicht mehr ausreicht. Die nächste schlechte Nachricht: Gibt es Mobbing, ist jedes Gemeinschaftsmitglied in irgendeiner Form daran beteiligt und nimmt eine Rolle im Mobbingsystem ein. In Analogie zu dem bekannten Kommunikationswissenschaftler Watzlawick kann man sagen: So wie man nicht nicht kommunizieren kann, kann man nicht nicht mit Mobbing zu tun haben. Zurücklehnen und Leugnen „Ja, kann sein, aber das ist hier nur ein Einzelfall“ oder „Der ist ja selber schuld“ unterstützt nur diejenigen, die selbst mobben. Die dritte schlechte Nachricht: Nimmt Mobbing einen ungebremsten Verlauf, endet es immer in Vernichtung.
Die aktuell am meisten anerkannte Mobbing-Definition ist die von Esser und Wolmerath (2020) und lautet:
„Mobbing ein Geschehensprozess, in dem destruktive Handlungen unterschiedlicher Art wiederholt und über einen längeren Zeitraum gegen Einzelne vorgenommen werden, welche von den Betroffenen als eine Beeinträchtigung und Verletzung ihrer Person empfunden werden und dessen ungebremster Verlauf für die Betroffenen grundsätzlich dazu führt, dass ihre psychische Befindlichkeit und Gesundheit zunehmend beeinträchtigt werden, ihre Isolation und Ausgrenzung am Arbeitsplatz zunehmen, dagegen die Chancen auf eine zufriedenstellende Lösung schwinden und der regelmäßig im Verlust ihres bisherigen beruflichen Wirkbereichs endet ”(2).
Wichtig an dieser Definition ist, dass Mobbing dann vorliegt, wenn die Gewalt wiederholt auftritt und über einen längeren Zeitraum hinweg geschieht. Das in der Alltagssprache bagatellisierte „Ich werde hier gemobbt“, wenn man auch mal kritisiert wird, ist also kein Mobbing. Zentral ist an dieser Definition allerdings, dass deutlich wird, dass die Vernichtung grundsätzlich dann eintritt, wenn der Mobbingverlauf ungebremst erfolgen kann. Anders gesagt: Will man Vernichtung verhindern, muss man Mobbing unbedingt stoppen.
Man kann nicht nicht mit Mobbing zu tun haben.
Sobald jemand mobbt, ist es für alle Beteiligten in diesem Sozialgefüge unmöglich, sich zu entziehen. Dies macht einen genaueren Blick auf die Dynamik von Mobbing nötig. Es spielt eine untergeordnete Rolle, ob die Ursache immer dieselbe ist. An diesem Punkt würde man in der Analyse nicht weiterkommen, denn – auch das unterscheidet die Forschung von Alltagsannahmen über Mobbing – es gibt weder typische Mobbingopfer, noch typische Täter. Es sind außerdem keineswegs stets Personen von Mobbing betroffen, die psychisch instabil sind. Das ist ein Gerücht, das sich zwar hartnäckig hält, in der Mobbingforschung jedoch als Schutzbehauptung jener entlarvt wurde, die zum Umgang mit Mobbing eine Leugnungsstrategie wählen. Bereits Heinz Leymann, dem Vater der Mobbingforschung, hat herausgearbeitet, dass es sich eher anders herum verhält: Nicht derjenige, der psychisch instabil ist wird gemobbt, sondern derjenige, der gemobbt wird, wird dadurch psychisch instabil.
Es ist wichtig, Mobbing zu erkennen, zu benennen und zu unterbrechen. Denn wir erinnern uns: im Mobbing ist das Ziel der Vernichtung immanent, wenn der Ablauf ungebremst fortschreiten darf. Außerdem verläuft Mobbing immer über einen längeren Zeitraum hinweg. Was geschieht in dieser Zeit im Detail?
Phasen von Mobbing.
Mobbing ist ein Geschehensprozess, das heißt er durchläuft mehrere Phasen. Diese Phasen unterscheiden sich sehr wesentlich von denen in einem normalen Konflikt, denn Mobbing ist ein bereits eskalierter Konflikt. Der Rat „Da muss man einfach mal das Gespräch suchen“ oder „Der merkt das bestimmt nicht“ hilft da nicht mehr.
Kein Interesse an sachlicher Lösung.
Charakteristisch ist eher, dass Mobbing-Ausübende kein Interesse an einer sachlichen, fairen, einvernehmlichen, menschlichen, empathischen und gerechten Lösung haben. Deshalb muss es eine Gegenbewegung zum Mobbing-Prozessgeschehen geben. Das ist deshalb nicht leicht, weil es nicht darum geht, eine einzelne destruktive Tat oder definierte Mobbinghandlungen auszumachen, sondern den Prozess zu erkennen, im Laufe dessen diese Handlungen über einen längeren Zeitraum hin destruktiv sind. Von Angriffen auf die Arbeitsleistung und soziale Integration am Arbeitsplatz, über destruktive Kritik und Angriffen auf die Privatsphäre bis hin zum Versagen von Hilfeleistungen haben der Jurist Martin Wolmerath und der Psychologe Axel Esser in ihren Studien (2020) einen Katalog zusammengestellt und veröffentlicht, der bis zu 120 Mobbinghandlungen enthält. Eine Gemeinsamkeit aller Mobbinghandlungen ist, dass sie immer persönlich verletzend sind, einschüchtern und ängstigen sollen, mit dem Ziel auszugrenzen und zu vernichten. Bei Mobbing gibt es also ein Macht-Ungleichgewicht.
Die erste Mobbing-Phase kann man bereits daran erkennen, dass die mächtigere Konfliktpartei nicht mehr an eine friedliche Lösung glaubt. Phrasen wie „Alternativlos“, „Die müssen das aushalten“, „Denen gehört jegliche Hilfe verweigert“, „Die sind doch dumm und verstehen nicht, was vor sich geht“, „Ich möchte nicht mit diesem widerlichen Gesocks in einen Topf geworfen werden“, „Die sind doch asozial“, sind ein paar Phrasen, die man in der Politik und von Intellektuellen und Künstlern zur Zeit auch vermehrt zu hören bekommt. Man will den Gegner besiegen, nimmt nur noch die negativen Eigenschaften der anderen Konfliktpartei wahr und drückt das auch sprachlich aus, mit dem Ziel, Sympathisanten zu finden.
Schärfer wird es in der nächsten Stufe, wenn der Gegner bloßgestellt und demaskiert werden soll, damit alle sein „wahres Gesicht“ sehen können. „Die sind alle rechts, Nazis, Verschwörungstheoretiker“ als Wendung gegen Kritiker politischer Maßnahmen sind durchaus dieser Phase zuzurechnen. In der zweiten Phase wird es als legitim angesehen, dass jemand ausgegrenzt und vernichtet wird, und es wird gesagt, er sei im Ganzen ein schlechter Mensch mit verwerflichem Charakter. Kennzeichen dieser zweiten Phase sind öffentliche Ächtung, Bloßstellung und üble Nachrede, in erster Linie mit dem Ziel, den Gegner zu lähmen. In einem nächsten Schritt wird dann damit begonnen, die Existenzgrundlage zu entziehen. Mails an Veranstalter zu senden, um diese zum Beispiel dazu zu bewegen, dass jemand den Veranstaltungsraum nicht mehr buchen kann (cancel culture) ist demnach eindeutig eine Mobbing-Strategie. In der letzten Verlaufsphase von Mobbing wird versucht -sogar unter Inkaufnahme des eigenen Untergangs- den Gegner endgültig zu vernichten.
Mobbing entsteht also, wenn der stärkere Gegner es in einem Konflikt nicht schafft, seine Interessen durch Worte oder Taten durchzusetzen und deshalb bewusst zu Mitteln greift, um die schwächere Konfliktpartei auszuschalten.
Es wird am Verlauf auch deutlich, dass ein Konflikt nicht automatisch schon Mobbing ist, so wie es in der Alltagssprache oft heruntergespielt wird. Aber Mobbing ist ein Konflikt, und zwar ein hoch eskalierter Konflikt mit Machtgefälle und einseitigen kompromisslosen Schikanen.
Die Stufen der Vernichtung lassen sich wie folgt zusammenfassen: Es beginnt mit Vorurteilen gegen bestimmte Menschengruppen. Diese werden zu Sündenböcken gemacht, dies verdichtet sich zu einer Generierung von Feindbildern, dann kommt es zur Diskriminierung der Menschen, die zu Feindbildern gemacht wurden, diese werden ausgegrenzt und selektiert, kaserniert (z.B. Einrichtung für Quarantäneverweigerer in Neumünster), entmenschlicht (als Tiere oder Insekten bezeichnet) und schließlich vernichtet.
Rollen im Mobbingsystem.
Um zu verhindern, dass sich vollkommen unbemerkt ein Mobbing-System bildet und festigt, ist es wichtig, die unterschiedlichen Rollen im Mobbing-System – Opfer, Täter, Helfer, Zuschauer – zu kennen.
Häufig ist es so, dass erst in dem Moment, in dem die Wirkungen von Mobbing öffentlich sichtbar werden, die Suche nach dem Schuldigen beginnt. Das ist für die Opfer von Mobbing ein großes Problem, weil es an dieser Stelle häufig zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommt. Derjenige, der gemobbt wird, wird als irgendwie komisch, renitent, anders, rebellisch, ein Querulant, ein Idiot, oder einfach asozial beschrieben. Daraus wird dann kurzerhand der Schluss gezogen, dass jemand, der eben irgendwie komisch, renitent, anders, rebellisch, ein Querulant, ein Idiot oder einfach asozial ist, selbst schuld daran ist, wenn er oder sie drangsaliert, diffamiert und verleumdet wird und es irgendwie auch verdient hat. Soll er oder sie doch eben einfach nicht rebellisch, anders denkend, ein Querulant, ein Idiot oder asozial sein.
Jeder kann Mobbing-Opfer, jeder kann Täter werden.
Aus der Mobbing-Forschung weiß man inzwischen, dass auffällige Verhaltensweisen eher das Ergebnis von Mobbing sein können und nicht deren Ursache. Wenn Menschen in ihrem sozialen Umfeld ausgegrenzt werden, verändern sie sich dramatisch. Jemand, der hoch gebildet, kreativ und erfolgreich ist, kann dadurch durchaus zum Opfer werden.
Einen typischen Täter gibt es ebenfalls nicht. Selbst Menschen, die sich für sehr friedlich halten, können gewissermaßen in die Täterrolle rutschen, weil sie keinen guten Umgang mit Missgunst, Ärger über Störungen, Neid oder Angst haben. Die Aussage „So etwas würde ich nie tun!“ ist eine Selbsteinschätzung, die nicht zwingend mit der Realität übereinstimmen muss.
Es gibt nur Mobbing-Opfer, wenn eine Gemeinschaft das zulässt.
Helfer oder Mitläufer sind diejenigen, die den oder die Täter ermutigen, die spotten und lachen und die teilweise das aggressive Verhalten der Täter übernehmen. Helfer befinden sich meist im Freundeskreis des Täters. Häufig herrscht bei ihnen die Angst vor, die Freundschaft oder bestimmte Privilegien zu verlieren, die sie durch die Nähe zum Täter haben.
Schließlich gibt es diejenigen, die Mobbing dulden und bewusst zu- oder wegschauen. Zuschauer greifen nicht ein, indem sie das Opfer stärken oder den Mobber stoppen. Sie haben Angst selbst Opfer zu werden. Wie der Begriff Zuschauer impliziert, dienen sie dem Täter obendrein als Publikum. Diese Gruppe ist sehr bedeutsam, wenn man sich damit beschäftigt, wie man Mobbing verhindern kann.
Die Grenzen zwischen diesen Rollen im Mobbingsystem sind allerdings fließend. Was ist beispielsweise mit denjenigen, die insgeheim „Geschieht demjenigen recht“ denken? Sind sie Zuschauer, die Leymann auch „Möglichmacher“ nannte, oder gehören sie bereits zu den Helfern?
Es wird nochmals deutlich: Bei Mobbing ist man immer Teil des Geschehens. Jeder ist beteiligt und jedem kommt eine Rolle zu. Es ist deshalb eine zentrale Aufgabe, aufzuhören diese Verantwortung abzugeben, sondern die eigene Rolle zu reflektieren.
Publizistische Gewalt – Die Rolle von Medien im Mobbingsystem.
Worte haben eine enorme Kraft und können sowohl in eine gute und in eine destruktive Richtung wirken. Mit Worten kann man Liebe ausdrücken, aber ebenso einen Krieg anzetteln. Die Verantwortung im Umgang mit Sprache liegt nicht in höheren Mächten oder „denen da oben“, sondern in jedem einzelnen Menschen selbst und in der Gesellschaft. Medien haben hierbei eine hohe informative, soziale, politische und ökonomische Funktion. Es lohnt sich also, die Frage nach der Verantwortung von Medien in ihrer Funktion als kommunikatives Organ, insbesondere in Bezug auf ihre Rolle im Mobbingsystem zu stellen.
In welcher Hinsicht können Medien destruktiv wirken und Mobbing-Täter sein? Der Journalist Markus Klöckner hat in seiner Analyse einer Medienkampagne gegen den Sänger Xavier Naidoo von publizistischer Gewalt gesprochen und Medien in der Täterrolle gesehen (5).
In dem immer wieder neu aufgelegten Klassiker „Rufmord und Medienopfer“ von Christian Schertz und Thomas Schuler spricht Georg Henschel in einem Beitrag von „neuzeitlicher Inquisition“ (6). Gemeinhin herrscht die Ansicht vor, dass Personen öffentlichen Lebens schließlich damit rechnen müssten, dass sie angegriffen würden und damit ihr Recht auf einen Schutz ihrer Persönlichkeitsrechte verwirkt hätten. Aus Sicht der Mobbing-Forschung ist dies eher eine Schutzbehauptung von Tätern und Helfern. Juristisch betrachtet kann es sich lohnen, sich gegen Diffamierungen, Verleumdungen, Anfeindungen und Rufmord zu wehren, wie ich kürzlich in einem Artikel am Beispiel des Herausgebers des Online-Magazins Rubikon, Jens Wernicke, zeigen konnte (7).
Wie oben angeführt, spielen beim Verhindern von Mobbing die Zuschauer eine wichtige Rolle, so dass sich in Bezug auf die Rolle von Medien als Täter auch die Frage nach den Zuschauern stellt.
Ein Experiment.
Lesen Sie einmal folgende Schlagzeilen oder Beispielsätze aus Artikeln unterschiedlicher Zeitungen und beobachten Sie, was Sie dabei denken und fühlen. Reagieren sie mit Sympathie oder Antipathie? Ich beziehe mich dabei bewusst auf eine Person, die in den letzten sieben Tagen besonders im Zentrum der Berichterstattung stand. Damit nicht bereits der Ruf der Zeitung dieses Reflexionsexperiment eintrübt, gebe ich hier noch nicht an, in welcher Zeitung es stand.
„Dritte Coronawelle in Ostafrika: Tansanias oberster Querdenker“
„Für seine Thesen zur Corona-Pandemie hatte das Staatsoberhaupt weltweit zweifelhafte Aufmerksamkeit bekommen.“
„Der 61-Jährige – wegen seines kompromisslosen Führungsstils auch “Bulldozer” genannt – forderte das Gesundheitsministerium zur Vorsicht mit den im Ausland entwickelten Impfstoffen auf und stellte infrage, wie sie so schnell hätten entwickelt werden können.“
„Lange leugnete Magufuli das Coronavirus, dann empfahl er Beten und Dampfinhalation gegen die Pandemie. Nun wird über seinen Verbleib und Gesundheitszustand spekuliert.“
„Als Corona-Leugner bekannt. Tansanias Präsident John Magufuli ist tot.“
In der Neurowissenschaft weiß man inzwischen, dass sprachliche Gewalt die gleichen Auswirkungen wie körperliche Gewalt hat, denn bei beidem ist das gleiche Schmerzzentrum im Gehirn betroffen. „Corona-Leugner“, „Covidiot“, „Querdenker-Leerdenker“ sind Abwertungen, die zwar zum Teil politisch und juristisch abgesichert sein mögen, die jedoch einen abwertenden Charakter haben und eine Person oder eine bestimmte Gruppe von Menschen ausgrenzen und als „die Anderen“ bezeichnet. Auch wenn man Einzelne oder Gruppen als „asozial“ bezeichnet, zum Beispiel, weil sie keine Maske tragen können oder wollen, ist das eine Abwertung und damit destruktiv wirkend. Eine Person als Bulldozer zu darzustellen, wie in obigem Beispiel, ist ebenfalls eine Abwertung. Wird eine Abwertung indirekt weiterverbreitet –„er wurde Bulldozer genannt“- ist dies ein Hinweis darauf, dass die Medien hier die Rolle als Helfer im Mobbingsystem einnehmen.
Eine weitere Frage, durch die Hinweise auf ein bereits gefestigtes Mobbingsystem sichtbar werden, ist die Frage danach, ob die Bedürfnisse von Einzelnen oder einer bestimmten Gruppe im Zentrum des Interesses stehen oder ob vielmehr wichtig ist, welche Meinung die richtige oder falsche ist?
Wie kann und muss man Mobbing stoppen?
Darum ist die Frage nach den Grundbedürfnissen eine zentrale Frage. Man kann durch eine Antwort auf diese Frage Mobbing erkennen und stoppen. Schwere und dauerhafte Verletzungen der Grundbedürfnisse sind auch die Hauptursache für einen Anstieg von Gewalt. Das ist besonders nach Naturkatastrophen (Pandemie) und Terroranschlägen der Fall.
Bindung und Beziehung ist eines der wesentlichen Grundbedürfnisse des Menschen. Wir brauchen die Erfahrung, gewollt, gesehen und geliebt zu werden. Ein weiteres wichtiges Bedürfnis ist es, dass unsere Umwelt berechenbar ist und es einen Informationsfluss gibt, so dass wir wissen, was geplant wird. Ein weiteres wichtiges Bedürfnis ist das nach Selbstwert – diesen zu entwickeln, Selbstwirksamkeit zu spüren und zu schützen, also sich gesehen und wertgeschätzt zu fühlen.
Allgemein kann man sagen, dass Respekt, Achtsamkeit, Dialog und Wertschätzung Wege aus der Mobbing-Abwärts-Spirale sind. Dr. Rupert Herzog, Leiter der Mobbing- und Gewaltpräventionsstelle der Kinder- und Jugendanwaltschaft Oberösterreich, erkennt anhand seiner langjährigen Forschung und praktischen Arbeit sechs Strategien, die wirksam gegen Mobbing, Gewalt und wie er sagt eine „Politik der Furcht“ sein können (8).
- Eine Kultur des Dialog über Ethik und Werte
- Ein menschenrechtsorientiertes Werteverständnis, das täglich praktiziert wird
- Eine Politik der sozialen Gerechtigkeit und gleichen Startbedingungen
- Ein respektvoller und anerkennender Umgang miteinander
- Verständnis männlicher und weiblicher Stärke, damit Mitgefühl, Kraft, Schutz, Sicherheit vermittelt und umgesetzt werden kann. Denn hinter dem Hass und der Wut auf Andere stehen Ängste, Unsicherheit und Trauer über Dinge, die einem vorenthalten wurden
6.Eine Kultur des Mitgefühls, des Miteinanders und einem zivilcouragierten Handlungsmodus, der aus einem Austausch darüber entsteht, was man gegen Mobbing in der Gesellschaft tun kann
Wenn Rupert davon spricht, dass diese Aspekte kultiviert werden müssen, dann bedeutet das in der Konsequenz, dass jeder Einzelne dazu beitragen und zu verhindern suchen muss, dass sich eine Politik der Furcht und der Angst sich zu einer Politik der Grausamkeit weiterentwickelt. Das bedeutet ganz konkret, dass sich jeder grundsätzlich -liebevoll mit sich selbst, aber sehr ehrlich und ernsthaft- fragt, welche Rolle er im Mobbingsystem einnehmen will und in welcher Gesellschaft er am meisten gesehen, respektiert und wertgeschätzt wird. Es ist wichtig, dass jeder Mensch in seinem Alltag versucht, die oben genannten Strategien täglich anzuwenden und die eigenen Verhaltensmuster nach und nach zu verändern. Man kann mit einer Analyse dessen beginnen, was man in den unterschiedlichen Medien wahrnimmt. So lässt sich aufhören, diese nur bequem zu konsumieren, sondern man beginnt, zu reflektieren, ob und wie Menschen abgewertet werden. Das kann man mal mindestens 28 Tage lang machen, dann ist es eingeübt. In einem nächsten Schritt kann man prüfen, ob das in Artikeln, Blogs oder Beiträgen in sozialen Medien Gesagte zu meinen ethischen Grundwerten passt. Das sind nur zwei Beispiele, wie man ganz konkret damit starten kann, Respekt, Achtsamkeit und Wertschätzung zu üben und zu kultivieren.
So gibt man Spaltung, Diffamierung, Brutalität und Vernichtung keine Chance. Wir müssen uns nur dafür entscheiden und aktiv werden, denn
„Anders ist anders. Anders ist nicht schlechter. Anders ist anders. Punkt.“
(Vera Birkenbihl)
Quellen und Literatur zum Weiterlesen:
- Ruf, Bernd: Das Corona-Trauma und die therapeutischen Möglichkeiten einer Notfallpädagogik. In: Glöckler, Michaela und Andreas Neider (Hrsg.): Corona und das Rätsel der Immunität. 3. Auflage 2021
- Esser, Axel und Martin Wolmerath (2020). Mobbing und psychische Gewalt, 10., überarbeitete Auflage.
- Heinz Leymann (2013). Mobbing – Psychoterror am Arbeitsplatz und wie man sich dagegen wehren kann. 14. Auflage Rowohlt, 1. Aufl., Reinbek bei Hamburg.
- https://www.ndr.de/nachrichten/schleswig-holstein/Neumuenster-Einrichtung-fuer-Quarantaene-Verweigerer-startet,quarantaene184.html
- https://www.heise.de/tp/features/Medienhetze-gegen-Systemkritik-3708737.html
- Schertz, Christian und Thomas Schuler (Hrsg.). Rufmord und Medienopfer. Die Verletzung der persönlichen Ehre. Links Verlag, Berlin 2007
- https://www.rubikon.news/artikel/widerstand-wirkt
- Rupert Herzog. Mobbing und verbale Gewalt: https://www.youtube.com/watch?v=I0bpC8KQOhM
- https://www.deutschlandfunk.de/televisionaeres-mobbing.730.de.html
- Was kann man tun: https://ggr-law.com/persoenlichkeitsrecht/faq/rufmord/
- Rufmord ist eine Straftat: https://www.ingenieur.de/karriere/arbeitsrecht/rufmord-im-internet/
- Rufmord kann seine Opfer zerstören – und genau das ist sein Ziel: https://www.vpsm.de/index.php/wir-ueber-uns/medien-echo/13-wir-ueber-uns/artikel-presse/85-rufmord-so-wehren-sie-sich-tv-hoeren-und-sehen-11-00
- Man kann nicht unbeteiligt sein: https://www.gew.de/aktuelles/detailseite/neuigkeiten/es-gibt-keine-unbeteiligten/
Über den Autor
Christiane Borowy, Jahrgang 1968, ist Soziologin, Sozialpsychologin, Körperpsychotherapeutin und Sängerin. Sie ist Gründerin und Leiterin des seit Ende 2015 bestehenden „borowita — Institut für Sozial-Kulturelle Arbeit“. Mit ihren Seminaren zur persönlichen und politischen Bildung, beispielsweise mit „Hurra, wir streiten uns - wie man gewaltfrei kommuniziert“, setzt sie ihre Vision harmonischer Gemeinschaftsbildung um.