Am 7. Oktober 2001 marschierten die USA und ihre Verbündeten in Afghanistan ein. Nach ihrem “längsten Krieg” hinterließen sie ein Chaos, dessen Folgen bis heute kaum verdrängbar sind – was der österreichisch-afghanische Journalist, Autor und Kriegsreporter Emran Feroz in diesem Kommentar für Stichpunkt bewegend veranschaulicht. Seit über zehn Jahren berichtet er nun aus Afghanistan, wobei von ihm zuletzt „Vom Westen nichts Neues – Ein muslimisches Leben zwischen Alpen und Hindukusch“ (C.H.Beck) erschien. Sein Buch „Der längste Krieg – 20 Jahre War on Terror“ erschien 2021 beim Westend Verlag und wurde zum Spiegel-Bestseller. 


“It’s Veteran’s Day”, kommentiert der US-Reporter Seth Harper auf dem Kurznachrichtendienst “X” (einst als “Twitter” bekannt) und teilt ein Foto von sich und seinen Kameraden. Es stammt aus dem Jahr 2005 und zeigt die uniformierten und bewaffneten Soldaten in der irakischen Hauptstadt Bagdad. Viele andere Kriegsveteranen (und überraschend viele Journalisten) taten dasselbe und überfluteten am 11. November die Sozialen Medien mit Bildern aus Irak, Afghanistan, Syrien oder anderswo. Ihre Einsätze wurden dabei meist glorifiziert, obwohl sie de facto nichts anderes waren als illegale Angriffskriege. Zumindest im Fall des Irak-Krieges gilt dies mittlerweile als unbestritten. Doch auch der Krieg in Afghanistan hatte wenig bis gar nichts mit jenem internationalen Rechtssystem zu tun, auf das die westliche Welt gerne stolz zu sein scheint. 

Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 zerbrach die Welt entlang der Linie der Narrative der Bush-Administration und ihrer Komplizen. Es gab nur noch die Guten und die Bösen. Was dazwischen lag, wollte man gar nicht wissen. Dies machte auch der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger deutlich, indem er klarstellte, dass der “Feind” für das, was er getan habe, zahlen müsse. Ein langjähriger Rachefeldzug gegen die “Barbaren”, ein “Kreuzzug”, wie Bush ihn nannte, war deshalb vorprogrammiert und ausweichlich.  

Am 7. Oktober, weniger als vier Wochen nach den Angriffen in New York und Washington, war es so weit: Die USA und ihre Verbündeten riefen den NATO-Bündnisfall aus, machten die afghanische Bevölkerung im Kollektiv für den Al-Qaida-Terror mitverantwortlich, obwohl keiner der Attentäter einschließlich des “Terror-Paten” Osama bin Laden afghanische Wurzeln hatte, und griffen mit voller Brutalität an. B-52er bombardierten zahlreiche Regionen, Dörfer und Städte, die allesamt als “Taliban strongholds” umdeklariert wurden. US-Spezialeinheiten und CIA-Agenten mit Koffern voller Bargeld verbündeten sich mit lokalen Warlords und Drogenbaronen, die noch wenige Jahre zuvor durch die Berichte von Menschenrechtsorganisationen aufgrund ihrer Blutrünstigkeit bekannt geworden waren, und marschierten mit ihnen gemeinsam gegen die Taliban auf. Hinzu kamen zahlreiche neue Waffensysteme, die gegen die afghanische Bevölkerung erstmals zum Einsatz kamen. 

Eine dieser neuartigen Waffen war die bewaffnete Drohne, die erstmals in der Menschheitsgeschichte in der südafghanischen Provinz Kandahar zum Einsatz kam. Die jahrtausendealte Region, die einst als Schmelztiegel verschiedener Zivilisationen galt, war im Neusprech westlicher Antiterrorkämpfer vor allem eines: Der “Geburtsort” der Taliban. Die US-Drohne des Typs “Predator” (“Raubtier”), bewaffnet mit dem “Feuer der Hölle” (“Hellfire-Raketen”), hatte deshalb eine klare Aufgabe: Den Feind, in diesem Fall den Taliban-Führer Mullah Mohammad Omar, finden und eliminieren.  

Nach mehreren Stunden der verpixelten Beobachtung drückten die verantwortlichen Operatoren auf den Knopf. Sie trafen ein Haus und eine Menschenmenge. Der Taliban-Führer war nicht unter ihnen, sondern verstarb erst über ein Jahrzehnt später eines natürlichen Todes. Versteckt in einem Haus nahe einer Basis des US-Militärs, das jahrelang mit den “Todesengeln”, wie viele Afghanen die Killermaschinen am Himmel nannten, ganze Dörfer terrorisierte. 

Auf ganzer Linie gescheitert

Im Laufe des US-Krieges am Hindukusch wurde Afghanistan zum am meisten von Drohnen bombardierten Land der Welt. Die genaue Anzahl der Angriffe ist unbekannt. Allerdings ging sie laut dem Bureau of Investigative Journalism, einer Journalisten-Organisation, die den Drohnenkrieg damals akribisch beobachtete, in die Zehntausende. Besonders intensiv wurde der Schattenkrieg unter Friedensnobelpreisträger Barack Obama geführt, der die Anzahl der Bodentruppen im Land massiv verringerte, während er auf Spezialeinheiten und Drohnen setzte.  

Es war auch Obama, der diese Form der Kriegsführung in anderen Ländern, etwa in Somalia, Jemen und Pakistan, ausweiten ließ. Bekannt wurde während seiner Amtszeit auch der “Terror Tuesday”, an dem der US-Präsident die sogenannte “Kill List” – eine Namensliste mit den Zielen von Drohnenangriffen – persönlich unterzeichnete. Die US-Administration pochte immer wieder darauf, dass die Liste voll mit “Terroristen” sei. Im Laufe der Zeit wurde allerdings bekannt, dass sich auch Journalisten sowie Aktivisten aus der Zivilgesellschaft auf der “Kill List” befanden. 

Tatsächlich wurde erst im August 2021 deutlich, wie sehr die vermeintlich präzise und “saubere” Kriegsführung der Amerikaner in Afghanistan und anderswo versagt hatte. Denn während damals die NATO aus Afghanistan abzog und für dystopische Szenen am Kabuler Flughafen sorgte, zogen jene Taliban, die man angeblich zwanzig Jahre lang effektiv bekämpfte, triumphierend in Kabul ein und stellten die neue Regierung. Kurz zuvor, am 15. August, war der letzte vom Westen installierte Präsident des Landes, Ashraf Ghani, gemeinsam mit seinem Beraterstab aus dem Land geflüchtet. Innerhalb des neuen Taliban-Regimes fielen mindestens zwei Namen besonders auf: Sirajuddin Haqqani, von nun an Innenminister des Landes, sowie dessen Onkel Khalil ur-Rahman Haqqani, der im Ministerium für Geflüchtete mit Kalaschnikow unter dem Arm die Verantwortung übernahm. Auf beide schrieb das FBI einst ein Kopfgeld von je zehn und fünf Millionen Dollar aus. In den Jahren des Krieges wurden sie mehrmals für tot erklärt – bis sie wieder lebendig in Erscheinung traten. Die berechtigte Frage, wer an deren Stelle immer und immer wieder getötet wurde, stellte niemand, auch nicht in jenem August, als das Scheitern des Krieges deutlicher wurde als jemals zuvor. 

Dabei wurde auch in eben jenen Tagen deutlich, wen die Drohnen in den meisten Fällen töteten. Kurz bevor der letzte US-Soldat Afghanistan verlassen hatte, fand ein weiterer Drohnenangriff statt. Im Gegensatz zu den Jahren zuvor war der Tatort kein abgelegenes Dorf, das kaum von Journalisten aufgesucht wurde, sondern das urbane Kabul. Innerhalb weniger Stunden waren zahlreiche Berichterstatter vor Ort und dekonstruierten das Narrativ der US-Regierung, die behauptete, IS-Terroristen getötet zu haben. Die zehn Toten waren ausschließlich Zivilisten, darunter sieben Kinder. Eines der Opfer war ein Familienvater, der für eine amerikanische NGO tätig war. Seine zwei Brüder, ein Soldat der afghanischen Armee sowie ein Dolmetscher der US-Truppen, waren sogar Verbündete jenes Apparates, der sie nun angegriffen hatte.  

Radikalisierung und Flucht


Als der Westen 2001 in Afghanistan intervenierte, wurden Begrifflichkeiten wie Demokratisierung, die Befreiung der Frau und Menschenrechte von vielen verantwortlichen Politikern großgeschrieben.

Immer wieder wurden sie plakativ hochgehalten, um den Krieg zu rechtfertigen und die zahlreichen Schattenseiten des Einsatzes zu übertünchen.

Dabei wurden bereits in den ersten Wochen der Operation “Anhaltende Freiheit” grundlegende Fehler gemacht, die Europa und die USA bis heute verfolgen. Es waren Systemfehler, die letzten Endes zum Scheitern des gesamten Einsatzes, Fluchtwellen, die gegenwärtig andauern und ein Taliban-Regime 2.0, das stärker ist als jemals zuvor, führten.

Der wohl größte Fehler, den man damals beging, war der Ausschluss der frisch gestürzten und massiv geschwächten Taliban. Um die lukrative Kriegsmaschinerie nicht abrupt zu beenden, wurde ihnen ein Platz innerhalb des neuen Regimes vorenthalten. Dies hatte nicht nur die bereits erwähnten ideologischen Gründe, sondern auch geostrategische. Washington hatte großes Interesse daran, zahlreiche Militärbasen in unmittelbarer Nähe des Irans und Chinas zu betreiben. Basen wie jenes in Bagram nördlich von Kabul, das einst von den Sowjets errichtet wurde, wurden zum Zentrum des kapitalistischen Kriegslifestyles der Amerikaner. Inmitten von Burger King, Starbucks und den für das Militär organisierten Konzerten prominenter Bands und Rapper wurden Gefangene in den Kerkern des “War on Terror” in brutalster Art und Weise gefoltert und dabei auch ermordet.  

Bekannt wurde etwa der Fall des Taxifahrers Dilawar, der im Dezember 2002 willkürlich von US-Soldaten verhaftet wurde und während seiner Tortur zu Tode gefoltert wurde. Nicht wenige, die überlebten, schlossen sich den Taliban an, um Jahre später das verlassene Bagram triumphierend einzunehmen. “Wir sind hier an jenem Ort, der einst für uns die Hölle war. Als Sieger!”, sagte ein junger Taliban-Kämpfer, nachdem er ein Kamerateam durch das einstige Gefängnis führte. Besagter Kämpfer stellt nicht die Ausnahme, sondern vielmehr die Regel dar. 

Taliban-Kämpfer, die den Arg, den Präsidentenpalast in Kabul, am 15. August einnahmen, schlugen während ihrer ersten Pressekonferenz ähnliche Töne an und sprachen konkret vom Gefangenenlager Guantanamo auf Kuba. Auch jene, die die Bomben und Hellfire-Raketen der Amerikaner überlebt haben, sprachen stets von Rache, einem fundamentalen Bestandteil der afghanischen Kultur. “Wir schlossen die Augen und wollten nicht sehen, was die Politik unserer Eliten anrichtet”, meint Jawed Farhad, ein Publizist und ehemaliger Universitätsdozent aus Kabul.  

Farhad lebt weiterhin in Kabul. Während der Gespräche mit patrouillierenden Taliban-Kämpfern fiel ihm auf, dass die meisten von ihnen Verwandte durch Luftangriffe verloren hatten. “In Kabul bekamen wir davon kaum etwas mit. Wir ließen die Massaker zu, ignorierten und verdrängten sie”, so Farhad. Kurz und knapp: Nichts hat mehr Terroristen produziert als der vermeintliche Krieg gegen den Terror. Nichts hat ganze Landstriche mehr radikalisiert und in die Hände der Taliban getrieben als die Bomben, Drohnen und Folterapparate jener, die am Hindukusch vorgaben, für die “freie Welt” einzutreten. 

Neue Fluchtwellen statt Stabilität

Dass all dies zu keiner Stabilität beitragen, sondern neue Fluchtwellen aus Afghanistan generieren würde, war vorhersehbar. Seit den späten 1970er-Jahren flüchten Afghanen und Afghaninnen. Damals war der Hauptgrund die zehnjährige sowjetische Invasion gewesen, die zu Weihnachten 1979 begann und rund zwei Millionen Afghanen das Leben kostete. Die Besatzung der Roten Armee hinterließ im Land tiefe Wunden, die bis heute nicht geheilt sind. Obwohl auch Washington und seine Verbündeten damals eine verheerende Rolle spielten und den Konflikt durch die Unterstützung der verschiedenen Mudschaheddin-Milizen zu einem Stellvertreterkrieg ausarten ließen, war die sowjetische Gewalt in ihrer Brutalität alleinstehend. Auch die Zahlen sprachen eine eindeutige Sprache. So kam etwa die UN zum Schluss, dass die große Mehrheit der zivilen Opfer von den Sowjets und ihren afghanischen Verbündeten verursacht wurde. Ganze Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht. Ihre Bewohner wurden massakriert oder überlebten als Geflüchtete.  

Bis heute leben die meisten dieser Geflüchteten – mehrere Millionen – in den Nachbarstaaten Iran und Pakistan. Bis in die frühen 2000er-Jahre waren es meist Familien aus den urbanen Regionen des Landes, die es nach Europa schafften. Sie hatten oftmals eine privilegierte Stellung in ihrer Heimat, waren akademisiert und konnten sich die Flucht leisten. In den letzten Jahren war die Demografie der Geflüchteten eine andere. Bei vielen von ihnen handelte es sich um alleinstehende Männer, die nicht selten als Minderjährige die Flucht antraten. Hinzu kommt der Umstand, dass sie aus ärmlichen und nicht selten auch dörflichen Strukturen stammen, keinerlei Bildung genossen haben und vom Krieg gezeichnet sind. Dies sorgt nicht nur für Probleme in der neuen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch innerhalb der heterogenen afghanischen Diaspora.  

„Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“, lautet ein afghanisches Sprichwort, das man in den letzten Jahren meist den Taliban zuschrieb. Auch gegenwärtig spiegelt es nichts als die Realität wider.“

Daran wird sich auch in den nächsten Jahren nicht viel ändern, denn dafür werden die neuen Machthaber in Kabul sorgen. Die Taliban wissen nämlich, wie wichtig der Faktor Geflüchtete mittlerweile in Europa geworden ist, um politische Ziele durchzusetzen. Nachdem Deutschland vor wenigen Wochen erstmals seit der Machtübernahme der Taliban 28 Afghanen abgeschoben hatte, bot sich das Regime bereitwillig dafür an, weitere Menschen wieder aufzunehmen. Es handelt sich hierbei keineswegs um Satire. Vielmehr sind derartige Botschaften mit klaren politischen Forderungen verknüpft. Kein Land der Welt hat das Taliban-Regime bis heute offiziell anerkannt. Für eine Zusammenarbeit im Bereich Migration und Flucht ist eine solche Anerkennung allerdings früher oder später notwendig. “Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit”, lautet ein afghanisches Sprichwort, das man in den letzten Jahren meist den Taliban zuschrieb. Nicht nur in den letzten zwei Jahrzehnten, sondern auch gegenwärtig spiegelt es nichts als die Realität wider. 


„DER LÄNGSTE KRIEG – 20 JAHRE WAR ON TERROR“ von Emran Feroz
Erschienen im westend Verlag