Meine Urgroßmutter stammte aus Russland. Ich habe mir oft vorgestellt, wie es wohl wäre, dort zu leben. Wer wäre ich, wenn ich Russin wäre? Tolstoi, Tschechow, Dostojewski, Schostakowitsch, Tschaikowski, Chagall, Kandinsky – sie alle gehören zu meinem Leben, sie alle haben mich sehr bereichert, sie alle wollte ich niemals missen.
Nun aber fordern Menschen, und es sind viele, man müsse alles, was aus Russland kommt, verachten. Nachdem drei Jahre lang Menschen diffamiert und diskriminiert wurden, die sich kritisch zu Coronamaßnahmen und Impfung stellten, ist es nun en vogue, gegen Menschen zu hetzen, die sich mit Russland verbunden fühlen. Schlimmer ist nur noch dran, wer die russische Staatangehörigkeit besitzt. Russische Künstler werden von westlichen Bühnen verbannt, russische Sportler aus den Stadien, Werke russischer Schriftsteller aus Schulen und Universitäten. Das Feindbild aus dem Kalten Krieg ist wieder da – fraglich, ob es je weggewesen ist.
Ich bin nicht bereit, Russen abzulehnen, schon gar nicht bin ich willens, sie zu hassen. Niemand ist befugt, mir das anzuordnen. Mich bestürzt, dass Menschen so schnell bereit sind, einem Feindbild, das ihnen angeboten wird, zu folgen. Man nimmt es im Alltag eben mal mit, wie den Coffee to go. Es scheint völlig normal, kaum einer denkt sich etwas dabei. Dass es Feinde gibt, die man bekämpfen muss, lernt man bereits in Shakespeare-Dramen und Grimmschen Märchen; Netflix-Serien bauen ganz selbstverständlich darauf auf. Auf die Idee, seine Feinde zu lieben, kommen die wenigsten. Mag das auch eine zentrale Lehre in Christentum und Buddhismus sein, so schafft kaum jemand, das konsequent umzusetzen.
Warum eigentlich? Gibt es denn eine Notwendigkeit, an Feindbildern festzuhalten? Über ihre Funktion haben sich viele Menschen viele Gedanken gemacht. Einer von ihnen ist Arno Gruen. Der deutsch-schweizerische Psychoanalytiker zeigte auf, dass die meisten Menschen bereits in der Kindheit von ihren eigenen Empfindungen und Wahrnehmungen weggetrieben werden. Sie verlernen dadurch auch jegliche Empathie und das wiederum führe zu einem schlichten, polarisierenden Weltbild, das auf Feinde angewiesen ist.
Wer Gefühle wie Angst, Schuld, Scham und Schmerz nicht fühlen darf, muss sie von sich abspalten. Oder er projiziert sie, wie Arno Gruen weiter ausführt, auf ein Feindbild, um sie dann dort bekämpfen zu können. Das heißt, alles Unliebsame kann ich jemandem anderen anlasten und mich der Illusion hingeben, dass es überhaupt nichts mit mir zu tun hat. Trotzdem stört es mich und daher brauche ich Methoden, um dagegen vorzugehen.
Arno Gruen nennt das Beispiel eines deutschen Skinheads, der einen Menschen „einfach so“ zu Tode getrampelt hatte und später, während seines Aufenthalts in der Psychiatrie, über sich sagte: „Ärger, Frust, Schmerz, Trauer, die dringen nicht in mein Inneres vor (…) Einfach verdrängen, das ist am besten, oder in eisigen Hass umwandeln.” Ein Mechanismus, der sich laut Gruen im Grunde in der ganzen Menschheitsgeschichte findet:„In Wahrheit liefen die Feldherren vor ihrem eigenen Schmerz davon, um ihn außerhalb ihrer selbst in vermeintlichen Feinden zu zerstören“. Ignorierten wir das, würden Pogrome, Holocaust, ethnische Säuberungen und verdeckter oder offener Fremdenhass weiter die Geschichte des Menschen bestimmen.
Stellen wir uns unserem Schmerz, lassen wir uns ganz darauf ein, dann braucht es niemanden auf den wir ihn abwälzen müssen. Feindbilder könnten dann endlich der Vergangenheit angehören. Ob das tatsächlich so funktioniert, finden wir freilich nur heraus, wenn wir es ausprobieren. Warum also nicht den Versuch machen?
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.