“Mehr-Waffen”-Appelle sind gross in Mode. Man denke an die Debatte um den 1400 Kilogramm schweren Marschflugkörper vom Typ Taurus KEPD-350. Und nun liegt im Trend, Atomwaffen für ganz Europa zu fordern. So, als wäre nichts dabei.
Irgendwer, der in Bezug auf die menschliche Brutalität zum Applaus ansetzen wollte? Auch Max Horkheimer und Theodor W. Adorno sahen dazu keinen Anlass. Ihnen, Jahrgang 1895 und 1903, steckten noch die Gräuel des Zweiten Weltkriegs in den Knochen, als sie begannen, eingehender über die Ursachen des nationalsozialistischen Faschismus nachzudenken, über die “rätselhafte Bereitschaft der technologisch erzogenen Massen”, ihm und seiner totalitären Ideologie zu folgen.
Die beiden Philosophen jüdischer Herkunft, die aus dem Dritten Reich in die USA emigriert waren, trafen sich regelmässig im kalifornischen Santa Monica, um darüber zu debattieren. Ausgehend von der Frage, “warum die Menschlichkeit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt”, entstanden mehrere Essays, die unter dem Titel “Dialektik der Aufklärung” erschienen. Erstmals im Jahr 1944 veröffentlicht, zählt das Werk mittlerweile zu den grundlegenden und meistrezipierten der Kritischen Theorie, die auch unter dem Begriff “Frankfurter Schule” bekannt ist.
Horkheimer und Adorno überraschten mit einem Fazit, das einer Erschütterung gleichkam: Ausgerechnet die Aufklärung hatte Entwicklungen begünstigt, die ihren eigentlichen Zielen entgegenstanden. Die Betonung der Vernunft sei ausschlaggebend gewesen nicht für das Voranschreiten der bürgerlichen Zivilisation, sondern für deren Zusammenbruch. Wer vom Siegeszug der Aufklärung spricht, geht also fehl. Deren “rückläufiges Moment” dürfe, wie die beiden Denker mahnten, nicht unterschlagen werden.
Bereits Jahrzehnte vorher hatte Friedrich Nietzsche gewarnt, man dürfe der Vernunft keinesfalls so viel Gewicht geben, um jedwedes Menschliche darauf zu konstruieren. Niemand werde ausschliesslich von seiner Ratio gelenkt, sondern auch von seinen Emotionen, Trieben und Impulsen.
Damit legte Nietzsche die Spur zum einige Jahrzehnte später auftretenden Sigmund Freud, der davon überzeugt war, dass der Mensch von unbewussten Vorgängen gesteuert werde. Also ist er mitnichten Herr im eigenen Haus, auch wenn er gerne die Illusion hat, er wäre es.
Eigentlich sollte es bei der Aufklärung um eine Befreiung gehen, vor allem aus der geistig-seelischen Vereinnahmung durch die katholische Kirche. Dass das nächste Machtansprüche generierte und Unterdrückungsmechanismen in Gang setzte, war vielleicht nicht vorgesehen, aber nicht aufzuhalten. Horkheimer und Adorno stellten in ihren dialogischen Untersuchungen fest, dass die Aufklärung ein Klima der Diktatur dadurch schaffe, dass sich dem Verstand alles unterzuordnen habe: “Was dem Mass von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung als verdächtig.” Ihr schonungsloses Fazit: “Aufklärung ist totalitär.”
Die intendierte Entzauberung der Welt hat ihren bitteren Preis. Der auch darin besteht, dass eine nächste Ideologie erschaffen wird und damit eine nächste Illusion. Es ist nämlich, wie Horkheimer und Adorno aufzeigten, mitnichten so, dass der Fortschrittsmensch sich aller Mythen entledigt hätte, sondern sich vielmehr ein nächstes Konstrukt auf einem mythologischen Fundament aufbaut: Nicht Götter und Dämonen sind es nun, die wir zur Welterklärung heranziehen, sondern Formeln und Statistiken.
Christliche Glaubensbekenntnisse sind passé, es gilt nun “Follow the science”.
Alter Wein also in neuen Schläuchen.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.