Ein Gastbeitrag von Ulrike Guérot 1
„Sobald Europa wieder erwacht, kehren Wahrheitsfragen in die große Politik zurück. Auf Dauer hängen Erfolge Europas von der Fähigkeit der Europäer ab, an ihre Rechte auf Erfolg zu glauben.“
Peter Sloterdijk
Europa, das einstige Friedensprojekt, ist im Krieg! Wer hätte sich das noch vor Kurzem vorstellen können? Selbst wenn kein Staat der Europäischen Union formal im ukrainisch-russischen Krieg Kriegspartei ist, dominiert das dortige Kriegsgeschehen die Politik in ganz Europa. Wer Verhandlungen fordert, ist ein Lumpenpazifist. Es ist ganz so, als hätte Europa sich entschieden, noch einmal alle Elemente von Kriegspropaganda, wie die belgische Historikerin Anne Morelli sie für den I. Weltkrieg aufgeschrieben hat, zu wiederholen: völlige Dämonisierung des Gegners, Reduzierung des Feindes auf eine Person („Putin“), fehlende Kontextualisierung, klare Teilung in Gut und Böse, empörte Abwehr von Mitverantwortung. Die Psychodynamik der Kriegshetzer erinnert an 1914. Europa ist in der kompletten Regression!
Was für ein Verrat am Wesenskern Europas! Europa, das hieß siebzig Jahre lang nie wieder Krieg! Während auf jedem Balkon die blaue Europafahne mit den zwölf gelben Sternen hängt und die EU eine europäische Friedenskonferenz einberufen müsste, nimmt Europa derzeit undifferenziert Partei für eine geeinte ukrainische Nation, die es in dieser Form nie gab, noch gibt, sondern die wie alle Nationen in Europa ein multi-nationales und multi-ethnisches Produkt der Geschichte ist.
„U-kraine“ heißt etymologisch so etwas wie ‚an der Grenze‘. Die Krim war in der Geschichte immer entweder ottomanisch oder russisch, Kiew, eine der ältesten Städte Europas, gilt in Erzählungen als „Mutter der Rus“. Odessa wurde später zum kulturellen und religiösen Melting-Pot, wie die meisten europäischen Städte, sei es Prag, Triest oder Wien. Galizien, die Westukraine, also Lemberg, gehörte bis 1918 …
Fußnoten- Dieser Text ist zusammengestellt aus Auszügen aus dem I. und V. Kapitel des Essays „Endspiel Europa – Warum das politische Projekt Europa gescheitert ist – und wie wir wieder von ihm träumen können.“ Zusammen mit Hauke Ritz. Das Buch erscheint beim Westendverlag im Oktober 2022.[↩]
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