ein kommentarischer Literaturhinweis von Tom Krebs
Gemäß seinem gleichnamigen Buch stellt Tom Krebs in diesem Kommentar die Regierung der deutschen Ampel-Koalition auf die Anklagebank. Als Professor für Makroökonomik an der Universität Mannheim sowie als wissenschaftliches Mitglied der Mindestlohnkommission argumentiert der Autor fundiert: Die blinde Gefolgschaft gegenüber einem märchenhaften Neoliberalismus hat zu den größten Real-Lohnverlusten der deutschen Nachkriegsgeschichte geführt. Doch – wer oder was hat diese Entscheidungen herbeigeführt? Und wie sähen realistische Lösungen dieses Wirtschaftsdesasters aus? Die deutsche Bundessregierung stürzt dieser Schachzug jedenfalls in eine fundamentale Regierungskrise.
Deutschland steckt in einer Dauerkrise. Nach zwei Jahren Coronakrise hatten die Menschen auf ein halbwegs normales Leben gehofft, doch dann kam die Energiekrise und brachte die höchsten Reallohnverluste der Nachkriegsgeschichte. Es herrscht eine große Verunsicherung im Land und rechtspopulistische Ideen gewinnen an Zustimmung.
Warum ist die wirtschaftliche und politische Lage so schlecht? Viele Ökonomen sagen, strukturelle Faktoren seien schuld: zu viel Bürokratie, eine ungünstige Altersstruktur und ein frühes Rentenalter. Deutschland sei angeblich ein alter, fauler Mann. Die Deutschen müssten nur wieder mehr „Bock auf Arbeit“ haben, dann würde sich die Wirtschaft schon erholen.
Diese Argumente überzeugen nicht. Sicherlich kämpft die deutsche Wirtschaft mit strukturellen Herausforderungen, doch sie können nicht die aktuelle Krise erklären. Der Grund für die schlechte Lage in Deutschland sind die Spätfolgen einer Energiekrise, die von der Ampelregierung und ihren wirtschaftspolitischen Beratern fahrlässig unterschätzt wurde. Es galt lange Zeit das Motto: Krise, welche Krise? Diese Fehldiagnose hat zu einer verfehlten Finanz- und Wirtschaftspolitik geführt, die der Wirtschaft geschadet und die Gesellschaft gespalten hat.
Die Fehldiagnose der Ökonomen
Die Fehldiagnose lässt sich am besten mit einer in Ökonomenkreisen beliebten Erzählung illustrieren. Diese beginnt mit der Feststellung, dass das Bruttoinlandsprodukt in Deutschland kaum gesunken sei und es deshalb den Menschen doch gar nicht so schlecht gehen könne – die Deutschen meckerten nur gern. Zudem hätten magische Marktkräfte dafür gesorgt, dass die deutsche Wirtschaft die Energiekrise gut überstehen konnte. Nach Auffassung dieser Ökonomen hat es überhaupt keine Wirtschaftskrise gegeben. Prominente Energieökonomen wiederholen gebetsmühlenartig das marktliberale Dogma, nach dem die anstehende Klimatransformation im Wesentlichen mit einem hohen CO2-Preis bewältigt werden könne. Schließlich lehnen die meisten Wirtschaftsexperten wirksame Energiepreisbremsen, existenzsichernde Mindestlöhne oder eine moderne Industriepolitik nach amerikanischem Vorbild ab, weil solche staatlichen Eingriffe in das heilige Preissystem angeblich ineffizient seien. Um die Dauerkrise hinter sich zu lassen, bräuchte Deutschland mutmaßlich nur „strukturelle Reformen“: niedrigere Rentenzahlungen, längere Arbeitszeiten und „mehr Bock auf Arbeit“.
Der naive Wirtschaftsliberalismus, der in dieser Ökonomenerzählung zum Ausdruck kommt, ist mehr als nur eine ökonomische Theorie. Er ist eine politische Agenda basierend auf dem methodischen Individualismus, wie er in den Werken von Friedrich A. von Hayek zu finden ist, und der einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die wirtschaftspolitischen Debatten der letzten 40 Jahre gehabt hat. In der Märchenwelt marktliberaler Ökonomen werden moderne Gesellschaften als eine Ansammlung von individuellen Präferenzen und Produktionsmöglichkeiten beschrieben, die unabhängig von den gesellschaftlichen Strukturen gleichberechtigt auf gottgegebenen Märkten agieren. Komplexe gesellschaftliche Transformationsprobleme werden von einer guten Marktfee gelöst, die mit ihren magischen Kräften alle Hindernisse einfach wegzaubern kann. In der fiktiven Welt der Ökonomen konnten sich Menschen und Unternehmen angeblich schnell und schmerzlos an die hohen Energiepreise während der Krise anpassen. Diese Trivialisierung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Prozesse unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit ist ein wesentlicher Grund für die zahlreichen ökonomischen Fehldiagnosen.
Der hier beschriebene Marktliberalismus mag vielen absurd erscheinen, aber sein Einfluss auf die öffentliche Debatte und die Politik ist nicht zu unterschätzen. Denn die meisten Ökonomen sind marktliberal – und sie haben politischen Einfluss. Es vergeht kein Tag, an dem nicht irgendein Wirtschaftswissenschaftler ein aktuelles Thema in den Fernsehnachrichten oder in einer Talkshow als Experte kommentiert. Zudem sitzen Ökonomen in vielen Kommissionen und besetzen wichtige Positionen in den Ministerien. Die fünf Mitglieder des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung werden regelmäßig als „Wirtschaftsweise“ bezeichnet, und es gibt allein sieben staatlich geförderte Wirtschaftsinstitute der wissenschaftlichen Leibniz-Gesellschaft, deren Präsidenten im Großen und Ganzen dem wirtschaftsliberalen Camp zuzuordnen sind. Hinzu kommen noch einflussreiche Einrichtungen wie das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), die in wirtschaftspolitischen Fragen eindeutig eine marktliberale Linie vertreten – und eine einheitliche CO2-Bepreisung in Kombination mit dem Klimageld als das Allheilmittel der Klimapolitik propagieren. Ökonomen haben Einfluss und Macht!
Die Fehlentscheidungen der Ampelregierung
Diesen Einfluss der Ökonomen und ihrer marktliberalen Theorie auf die öffentliche Debatte und die Politik analysiere ich in meinem neuerschienenen Buch „Fehldiagnose: Wie Ökonomen unsere Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten“. Dabei zeige ich, wie ihre ökonomischen Fehldiagnosen zu politischen Fehlentscheidungen mit desaströsen Konsequenzen für die deutsche Bevölkerung führten. Konkret verhinderten Wirtschaftswissenschaftler als Mitglieder der Kommission zur Gas- und Strompreisbremse eine ökonomisch vernünftige Preisbremse. Mit fragwürdigen Argumenten bekämpften sie erfolgreich eine angemessene Erhöhung des Mindestlohns. Das politische Desaster mit dem Heizungsgesetz, das die Republik im Frühsommer 2023 in Atem hielt, lässt sich ebenfalls auf das marktliberale Credo vieler Ökonomen zurückführen. Ganz allgemein hat die Illusion eines CO2-Preises als Leitinstrument der Klimapolitik großen Anteil daran, dass effektiver Klimaschutz in Deutschland zu scheitern droht.
Und schließlich durfte Bundesfinanzminister Christian Lindner im Schulterschluss mit marktliberalen Ökonomen bereits im Frühjahr 2023 eine „Normalisierung“ der Finanzpolitik verkünden, weil die Energiekrise angeblich beendet und die Zeit für einen finanzpolitischen Sparkurs gekommen sei – wenn es keine Krise mehr gibt, dann braucht es auch keine Krisenpolitik. Doch diese sogenannte „Normalisierung“ ist letztlich nur ein anderes Wort für eine Kürzungspolitik, die dann mit dem Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 15. November 2023 voll einschlug – die Bauernproteste im Januar 2024 mit den Traktorkolonnen in Berlin sind vielen noch gut in Erinnerung.
Mit meiner Kritik an der Ökonomenzunft setze ich mich bewusst von der These ab, dass sich die wirtschaftspolitische Beratung seit der Finanzkrise 2008/2009 und der damaligen Blamage der Ökonomen verbessert habe. Natürlich stimmt es, dass nur noch wenige Ökonomen einen banalen Neoliberalismus öffentlich propagieren, wie es vielleicht in den 1990er Jahren üblich war. Und in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur gab es sicherlich Fortschritte und neue Erkenntnisse, von denen ich in meinem Buch ebenfalls berichte. Doch was hilft dieser Fortschritt, wenn im entscheidenden Moment – und die Energiekrise war ein solcher Moment – die wirtschaftspolitische Beratung mehrheitlich versagt und damit immensen Schaden verursacht? Zudem sind die aktuellen Vorschläge vieler prominenter Wirtschaftsexperten, wie Deutschland der Dauerkrise entkommen kann, realitätsfremd und kontraproduktiv. Letztlich müssen sich auch Wirtschaftswissenschaftler an der Qualität ihrer Empfehlungen messen lassen.
Angesichts der Klagen vieler Ökonomen, dass die Politik nicht genug auf sie höre, erscheint meine These von dem großen Einfluss der Ökonomen vielleicht gewagt, doch ich belege sie ausführlich in dem Buch. Dabei behaupte ich nicht, dass die Politik immer den marktliberalen Empfehlungen folgen würde. Beispielsweise hat die Bundesregierung im März 2022 den Ratschlag einer meinungsstarken Gruppe von Wirtschaftsprofessoren ignoriert, eine Schocktherapie anzuwenden und die Gasimporte aus Russland sofort zu stoppen. Ökonomen und ihr Marktliberalismus gewinnen also nicht jede wirtschaftspolitische Debatte, doch sie definieren das Koordinatensystem, in dem diese Debatten stattfinden. Damit haben sie in der Regel die Deutungshoheit und einen nicht zu unterschätzenden Einfluss, sodass politische Entscheidungen tendenziell in eine gewisse Richtung gehen. Das schließt natürlich nicht aus, dass die Politik besonders absurde Vorschläge marktliberaler Ökonomen einfach ignoriert.
Einige Wirtschaftsexperten und Politikberater werden mir vorwerfen, dass ich es mit meiner Fundamentalkritik an der Ampelregierung übertreibe. Die Bundesregierung habe in der Energiekrise mit ihren Sofortmaßnahmen einen Gasmangel verhindert, die klimapolitische Wende eingeläutet und mit verschiedenen Wachstumsinitiativen einige vernünftige Maßnahmen auf den Weg gebracht. Das mag alles stimmen, aber dieses Argument folgt einer internen Verwaltungslogik, die niemanden außerhalb des Dunstkreises der Berliner Denkfabriken und Beraterfirmen interessiert. Und es beantwortet die entscheidende Frage nicht: Wie konnte es dazu kommen, dass eine hoffnungsfroh gestartete Fortschrittskoalition in einem großen politischen Fiasko endete?
Der hier beschriebene Ansatz bietet eine strukturelle Erklärung: Zwar hatte die Ampelkoalition einen guten Auftakt, weil sie zu Beginn der Energiekrise die realitätsfremden Ratschläge der marktliberalen Ökonomen ignorierte. Aber allmählich konnten diese Ökonomen und die neoliberale FDP das Kommando übernehmen – mit den entsprechend schlechten Ergebnissen für Wirtschaft und Gesellschaft. Anders gesagt: Mit einem FDP-Finanzminister, der an seiner marktliberalen Fantasiewelt festhält und gleichzeitig die Politik der Regierung bestimmt, kann es keine vernünftige Wirtschaftspolitik geben.
Was zu tun ist
Marktliberale Ökonomen haben die Energiekrise falsch diagnostiziert und sie liegen auch jetzt wieder falsch, wenn sie versuchen, die aktuell schwierige Lage nur mit dem Alter und der Faulheit der Beschäftigten zu erklären. Es sind Fehldiagnosen, die leider von der Politik mehrheitlich übernommen wurden.
Der Weg aus der Misere erfordert einen neuen Ansatz, der die Sorgen der Menschen ernst nimmt und gleichzeitig eine positive Zukunftsvision bietet. Dazu muss die Politik die Märchenwelt der selbstregulierenden Märkte hinter sich lassen und das alte Marktdogma durch eine realistische Theorie von Wirtschaft und Gesellschaft ersetzen. In dieser neuen Theorie spielen Unsicherheit (John Maynard Keynes), Anpassungskosten (Karl Polanyi) und Marktmacht (Karl Marx) eine zentrale Rolle. Sie bietet eine Methode zur Analyse einer Gesellschaft im Transformationsprozess, die sich am besten mit dem Begriff »ökonomischer Realismus« umschreiben lässt. Das Ergebnis eines solchen Paradigmenwechsels ist eine Politik, die ökonomische Vernunft und soziale Gerechtigkeit in den Mittelpunkt rückt. Dieser Ansatz steht im krassen Widerspruch zum marktliberalen Fundamentalismus mit seinen realitätsfremden Annahmen und gefährlichen Schlussfolgerungen, wie er immer noch die öffentlichen Debatten und die Darstellung in den Lehrbüchern der Volkswirtschaftslehre dominiert.
Ganz konkret muss sich die Bundesregierung auf einige wichtige Maßnahmen konzentrieren und diese konsequent und ohne Rücksicht auf die üblichen Nebelkerzen marktliberaler Ökonomen umsetzen. Eine solche Maßnahme ist eine Strompreisgarantie für alle privaten Haushalte und Unternehmen – nicht nur für die energieintensiven Industrien. Zudem erfordert die ökonomische Vernunft massive öffentliche Investitionen in die Infrastruktur und einen großvolumigen Investitionsbooster für den Mittelstand. Einen konkreten Plan dafür skizziere ich in meinem Buch. Der Mindestlohn sollte auf 15 Euro erhöht und die Tarifbindung gestärkt werden. All das würde den Wirtschaftsstandort stärken und gleichzeitig für faire Löhne sorgen – ein Fair New Deal – und wahrscheinlich auch der AfD ein wenig den Wind aus den Segeln nehmen.
Weitere Informationen zu Tom Krebs´ neuem Buch „Fehldiagnose: Wie Ökonomen die Wirtschaft ruinieren und die Gesellschaft spalten“ finden Sie unter: https://westendverlag.de/Fehldiagnose/2160
Über den Autor
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