Vor allem zwei Dinge treiben ihn an: sein knurrender Magen und die hemmungslose Lust auf Sex. In „Wendekreis des Krebses“ schildert Lebenskünstler Henry Miller sein leidenschaftliches Treiben durch das Paris der 1930er Jahre. Das skandalumwitterte Tagebuch wurde wegen seiner eindeutig obszönen Passagen in den USA bis in die 1960er Jahre untersagt. Auch der Schriftsteller Thomas Bernhard wurde schwer angegriffen: Sein 1988 veröffentlichtes Theaterstück „Heldenplatz“, eine Aufarbeitung von Österreichs Anschluss an Nazi-Deutschland, hatte Drohbriefe und Boykott-Aufrufe zur Folge; man tobte und wetterte, man schrie nach Zensur.
Kunst als Provokation. Und was kommt dann? Was folgt nach dem Tabubruch, nach der Grenzüberschreitung? Und überhaupt und zuallererst: Wer definiert die Grenze? Was ist zumutbar? Angesichts aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen scheint der Korridor der Duldsamkeit enger und enger zu werden. Nicht nur in Bezug auf die Kunst. Es wimmelt nur so vor Menschen, die sich – mitunter permanent – verletzt, beleidigt, gekränkt fühlen. Wodurch genau, lässt sich inzwischen kaum mehr vorhersagen.
Lapidar gesagt: A bissel Empörung geht immer. Doch es bleibt nicht nur bei der hitzigen Gefühlsaufwallung. Plötzlich werden Helden der Kindheit verbannt, Denkmäler bedeutsamer Geistesgrößen gestürzt, hymnische Gedichte überpinselt. Worte werden als unzumutbar erklärt und Menschen zur „Persona non grata“ abgestempelt und ins Abseits befördert. Redner werden am Sprechen gehindert, Kabarettisten und Sänger an Auftritten. Soziale Ächtung als Höchststrafe.
Der Skandal ist, gemäß einem Lied der Spider Murphy Gang, nicht mehr nur im Sperrbezirk, sondern wird ausgeweitet. Und zwar massiv. Alles, was stört, muss weg. Man nennt das heutzutage: Cancel Culture. Doch was soll das eigentlich? Um was geht es hier?
Es steht außer Frage, dass man sich gegen jedwede Form von Diskriminierung und Diffamierung zur Wehr setzen muss. Das haben sich auch die, die canceln, auf ihre Fahnen geschrieben. Doch es geht längst nicht mehr ausschließlich darum, sich für marginalisierte Gruppen stark zu machen, sondern jeden fertigzumachen, der eine Position vertritt, die von der gewünschten abweicht. Wer erstmal am Boden liegt, der mag vielleicht wieder aufstehen, muss aber damit rechnen, bei der nächstbesten Gelegenheit wieder gestürzt zu werden. Letztlich kann er sagen und schreiben, was er will, es ist immer falsch. Anders gesagt: Der Cancel-Community geht es um Macht. Und Kontrolle.
Zum Vergleich: Legitime Kritik bezieht sich auf Tatsachen und bringt rationale Argumente vor. Der Umgang miteinander ist respektvoll. Man bleibt beim Thema, greift aber nicht die Person selbst an. Wer cancelt hat eine völlig andere Intention: Er zielt darauf, das soziale und mediale Umfeld des Gegners so zu manipulieren, dass dieser ausgegrenzt und isoliert wird. Ein totalitärer Psychoterror Der besorgniserregende Auswirkungen auf das gesamtsoziale Klima hat. Das Lebenselixier liberaler Gesellschaften ist bedroht: die freie Meinungsäußerung.
Wohin soll das führen? Sollen wir alle zum Schweigen gebracht werden? Was bleibt, wenn alles weggecancelt ist? Und wann wird die Vernichtung zur Selbstvernichtung?
Die durch das Canceln intendierte Säuberung führt auf einen kolossalen Irrweg. Und zurück in das düsterste Kapitel deutscher Geschichte. Daher braucht es mehr denn je offene Herzen. Dann können wir alle Anklagen fallen lassen. Niemand muss mehr mit einem Rotstift durch die Welt marschieren und durchstreichen, was ihm nicht passt.
Hat überhaupt jemand das Recht dazu? Der Theologe Eugen Drewermann beantwortete das einmal so: „Menschen irrtumsfähig, fehlbar können nicht zu Gericht sitzen über Menschen, irrtumsfähig fehlbar.“ Das zu verinnerlichen, macht demütig.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.