Eine Freundin riet mir neulich, ich solle einer anderen Freundin gegenüber besser nicht thematisieren, dass ich mich über sie geärgert hatte. Für mich ist das allerdings keine Option. Ich eigne mich nicht dafür, Dinge unter den Tisch zu kehren. Ich spreche auch Unbequemes an. Das steigert eher selten meine Beliebtheit, aber darauf kommt es im Leben ohnehin nicht an. Für mich ist wesentlich, meine Integrität zu wahren. Und das geht nur, wenn ich an- und ausspreche, was für mich wahr ist, egal unter welchen Umständen.
Schweigen ist bequem. Und oft auch Selbstschutz. Wer als Journalist tätig ist, hat seinen Beruf verfehlt, wenn er sich in diesen „Safe Space“ flüchtet. Sein Job ist es, sich immer wieder in Gefahr zu bringen. Das hört sich ungewöhnlich an in einer Zeit, in der immer mehr Journalisten wie PR-Sprecher der Regierung auftreten. Die meisten haben vergessen, dass sie vor allem eines brauchen: Mut zur Parrhesia. Michel Foucault verstand darunter, alles auszusprechen, auch wenn man viel riskiert, doch man tut es, weil man es als seine Pflicht erkennt.
Der französische Philosoph, der dieses Konzept in Büchern wie „Die Regierung des Selbst und anderen“ einer näheren Betrachtung unterwarf, führte weiter aus: „In Parrhesia verwendet der Sprecher seine Freiheit und wählt Offenheit statt Überzeugungskraft, Wahrheit statt Lüge oder Schweigen, das Risiko des Todes statt Lebensqualität und Sicherheit, Kritik anstelle von Schmeichelei, sowie moralische Pflicht anstelle von Eigeninteresse und moralischer Apathie.“
Über Parrhesia haben sich bereits die Sokratiker ihre Gedanken gemacht; es wurde zum wesentlichen Leitfaden in Diskursen. Das Wort stammt aus dem Griechischen und bedeutet “über alles sprechen”. Es galt über mehrere Jahrhunderte als Tugend, war allerdings im Mittelalter weniger angesehen, da es als Sprechen eingeordnet wurde, das einem leeren Geschwätz gleicht, weil man einfach über das plappert, was einem gerade in den Sinn kommt.
In der heutigen Welt wäre es wieder mehr als notwendig, sich auf den Ursprungsgedanken zu besinnen, gerade weil in Debatten Belanglosigkeiten einerseits an der Tagesordnung sind und andererseits politische Korrektheit und propagandistische Parolen, die in der Regel die Unwahrheit zur Grundlage haben. Um die Wahrheit geht es längst nicht mehr. Es ist ein Kampf um Deutungshoheiten und dient denen, die sich der Manipulation verschrieben haben.
Wer spricht noch das wahre Wort ohne sich um mögliche Konsequenzen Gedanken zu machen? Freilich sollten nicht nur Journalisten Parrhesia praktizieren. Eine Gesellschaft, die sich in ihrer Meinungsfreiheit immer mehr eingeschränkt fühlt, wie zahlreiche Umfragen belegen, muss nach Wegen suchen, sich aus dieser Diskurs-Enge selbstverantwortlich zu befreien. Letztlich ist Parrhesia nichts weiter als eine Entscheidung.
In seinen letzten Vorlesungen am Collège de France entwickelte Foucault weitere Gedanken zu dem Akt der freimütigen Rede und machte deutlich: Ohne sich zum Mut hin zu überwinden, geht es freilich nicht. Denn durch rückhaltlose Offenheit riskiert man stets, die Zuneigung des Freundes zu verspielen oder den Zorn des Tyrannen beziehungsweise sonstiger Machtpersonen auf sich zu ziehen.
Wer das wiederum nicht will, hat vielleicht ein unbehelligtes Leben. Aber er zahlt auch einen hohen Preis. Parrhesia ist nicht nur ein Weg, um seine Integrität zu wahren, sondern die entscheidende Manifestation von Freiheit.
Man bedenke: Unfreie Menschen gibt es schon genug.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.