Noch heute beschuldigt mich meine Schwester, ich hätte mehrere Marienkäfer getötet. Ich behaupte dasselbe von ihr. Fest steht, dass da eines Tages diese kleine Kiste war, ohne Luftlöcher, und darin lagen die Leichen der Flügeltierchen. Wer sie dort einsperrte, ist bis heute nicht geklärt. Und so geht es immerzu mit vielen Erinnerungen, dass wir alle rückblickend etwas für wahr halten, was sich so aber nie ereignet hat. Unser Erinnerungsvermögen ist also weniger zuverlässig als wir glauben. Oder anders gesagt: unser Gehirn kann Erinnerungen so gut fälschen, dass wir sie für die Wahrheit halten.
In einer Studie, mit der die Kriminalpsychologin Julia Shaw bekannt wurde, haben 70 Prozent der Probanden eine Straftat gestanden, die sie nie begangen hatten. Etwa jemanden bestohlen oder mit einer Waffe attackiert zu haben. Dazu hatte Shaw die Versuchspersonen aus deren Kindheit erzählen lassen und befragte sie anschließend ganz selbstverständlich zu einem von ihr erfundenen Erlebnis, das die meisten Teilnehmer des Experiments für wahr hielten. Shaws Fazit: „Wir können uns auf unser Gedächtnis nicht verlassen.“ Das Gedächtnis sei wie eine Wikipedia-Seite: „Man selbst kann es verändern, aber andere können das auch.” Das Ausmaß der Fehlerhaftigkeit bei Erinnerungen sei schwer einzuschätzen. Forscher gehen davon aus, dass falsche Erinnerungen eher die Regel sind als die Ausnahme. Polizisten, Anwälte und Richter haben regelmäßig damit zu kämpfen, dass Aussagen von Opfern und Zeugen irrtümlich sein können.
Dieser Tage hat Olaf Scholz gefordert, Hubert Aiwanger möge alle Vorwürfe, die gegen ihn im Raum stehen, aufklären. Es dürfe nichts „vertuscht oder verwischt“ werden, so der Bundeskanzler. Damit appellierte er an das Erinnerungsvermögen des bayerischen Vizeministerpräsidenten. Was nicht ohne Ironie ist. Denn Scholz ist in den Warburg-Skandal verwickelt und kann sich angeblich an vieles, was in diesem Zusammenhang steht, nicht erinnern. Bei ihm liegt die Sache um die sechs Jahre zurück, bei Aiwanger 35 Jahre, führt also weit zurück in die Jugend. Damals hatte sein älterer Bruder menschenverachtende Flugblätter verteilt – einige davon wurden in Aiwangers Schultasche gefunden.
Und wieder stellt sich die Frage: Kann überhaupt erwartet werden, dass man sich daran erinnert, wie etwas tatsächlich gewesen ist? Oder müssen wir uns damit abfinden, dass wir immer eine Vergangenheit mit uns tragen, die verzerrt ist? Ist nicht vor allem wahr, dass wir, auch ohne uns dessen bewusst zu sein, etwas dazu dichten, etwas größer machen und mitunter dramatischer oder auch schöner? Manches wird auch ganz ausradiert, weil es uns unangenehm ist oder zu schmerzhaft; die Psychologie spricht von einem Verdrängungsmechanismus.
„Erinnern ist auch Erfinden“, sagt Julia Shaw. Eben weil Erinnerung so trügerisch ist, können sich Irrtümer ausbreiten, bei denen jeder überzeugt ist, dass es sich um seine eigene Erinnerung handelt. Ehepaare dürften solche Situationen kennen, in denen zwar beide dabei gewesen sind, jeder sich aber an etwas anderes erinnert und steif und fest behauptet: „Genau so war es.“
Ich bin bis heute überzeugt, dass meine Schwester die besagten Marienkäfer getötet hat. Aber ich gebe zu, dass ich auch für möglich halte, dass ich das behaupte, um besser dazustehen. Vor allem aber ist wahr: Ich kann mich nicht daran erinnern, wie es dazu gekommen ist.
Zu Recht fragen wir uns, wer wir ohne unsere Erinnerungen wären. Die eigene Biografie speist sich daraus und damit auch die eigene Identität. Von Menschen, die ihr Gedächtnis verlieren, ist bekannt, dass sie plötzlich ganz andere Vorlieben haben, etwa nicht mehr Fußball spielen, sondern Bücher lesen wollen, was ihnen vorher ein Gräuel war. Dass wir die sind, die wir sind, hat also ganz wesentlich damit zu tun, auf welche Erinnerungen wir in welcher Weise zurückgreifen. Und auf welche nicht.
Nun müsste noch darüber nachgedacht werden, ob das beängstigend ist oder erleichternd.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.