Die tiefen zwischenmenschlichen Gräben, die sich seit einigen Jahren auftun, müssen durch Introspektive, Begegnung und Vertrauen überbrückt werden.
Gott ist tot. Vor einigen Wochen hörte ich einen Vortrag des großartigen Philosophielehrers Walther Ziegler über Nietzsche. Ziegler erklärte darin das Konzept vom Übermenschen. Nietzsche ging davon aus, dass der Mensch den Wegfall der Religion als sinnstiftendes Fundament nicht ertragen würde. Die Folge sei eine Flucht in Ersatz-Religionen, in politische Ideologien wie Kapitalismus und Kommunismus, später ausdifferenziert in weitere „Ismen“: Materialismus, Konsumismus, heute ganz akut: Moralismus, Feminismus, Antirassismus, Szientismus.
Nietzsche dachte mehrere Jahrzehnte, ja Jahrhunderte voraus. Die Menschen würden das spirituelle Vakuum, das die Aufklärung nun einmal hinterlassen hat, nicht deckeln können. Auch die so vernünftig und rational anmutende Wissenschaft hat sich in der Coronazeit als falscher Götze entlarvt. Dieser Erkenntnis folgt laut Nietzsche schließlich der Schritt zur Selbstermächtigung. Das bedeute Transzendenz ohne Kirche, ohne Hierarchie, ohne Ideologie. Ohne Unterwürfigkeit und Abhängigkeit.

Der Mensch wird schließlich spirituelle Befriedung erfahren, indem er den göttlichen Funken in sich selbst und das Heilige in allem Seienden erfährt.
Selbstermächtigung!
Wer feine Antennen hat, merkt es täglich: die Zeit der Gurus ist vorbei. Noch im Jahr 2016 empfanden den überraschenden Wahlsieg Trumps gegen Hillary Clinton viele als Hoffnungsschimmer. Ein Kandidat, der gegen den „Deep State“ und die „Mainstreammedien“ angetreten war. Der würde es allen zeigen. Auch Trump hatte den Impfterror mitgemacht, hat weder Snowden noch Assange begnadigt, zündelt im Nahen Osten gegen den Iran.
Was für viele blieb, war endgültige Enttäuschung und Demoralisierung. Niemand wird uns retten. Zwar bestimmt ein Meer aus „MAGA“-Hats die amerikanische Landschaft, denn manche merken es früher und manche später, das ist immer so. Doch die Zeit des Personenkults ist vorbei und auch hierzulande werden die Stimmen der geblendeten Grünen- oder AfD-Anhänger leiser, die ihre Hoffnung noch immer auf eine Partei, eine Person, eine Ideologie legen.
Ich bin davon überzeugt, dass viele Menschen keinen Bock mehr auf Demokratiesimulation haben. Keinen Bock mehr auf krankhaft narzisstische Politikdarsteller, die über Krieg und Frieden entscheiden. Keinen Bock mehr auf das Schneller, Höher, Weiter unseres parasitären Geldsystems, keinen Bock mehr auf die Fake-Freundschaften und die Reizüberflutung der sozialen Netzwerke.
All unsere Krisen sind spirituelle Krisen
Ich sehe, wie kaputt manche Menschen durch die Straßen laufen, wie gefrustet, aber auch verunsichert mich manche Erwachsenen anschauen. Der grußlose, starre Blick am Tresen meines Fitnessstudios. Über Jahrzehnte traumatisierte Babyboomer, die dieses traumatisierende System seit Jahren mitmachen und dabei zugrunde gegangen sind.
Die multiplen Krisen der vergangenen Jahre, die Vereinzelung, das Dauer-Homeoffice. Die Gesamtsituation ist bescheiden, der Spalt durch die Gesellschaft gigantisch. Die Aussöhnung zwischen Alt und Jung (Generationenkämpfe), Mann und Frau (Geschlechterkämpfe) oder zwischen Opfern und Tätern des Corona-Psychoterrors ist eine Mammutaufgabe, die wir nur gemeinsam leisten können.
Und ich bin guter Dinge, denn ich sehe auch, wie sanft und wohlwollend mich ab und an Fremde auf der Straße anlächeln, wie einem manch freundlicher, flüchtiger Blick warm ums Herz macht. Ein guter Freund erzählte mir letztens von seinem Plan, einen Angelschein zu machen. Er wolle etwas ganz Simples machen, bei dem er abschalten kann.
Zurück zu lokalen Gemeinschaften
Ich leiste meinen Beitrag mit meinem Lächeln, meinen Gedanken und meiner Selbstfürsorge. Es beginnt bei uns selbst. Von der Erwartungshaltung in die Eigenverantwortung. Ich muss erst selbst in Ordnung sein, bevor ich anderen helfen kann. Nur wer sich selbst schätzt, kann andere Menschen schätzen.

Ich leite eine Leipziger Eisbadegruppe. Das Eisbaden ist eine transformierende Grenzerfahrung, die das Potential hat zu verbinden, Gespräche herzustellen. Heilung durch geteilten Schmerz.
Wir können nicht alle alleine Joggen gehen, uns beim Videospielen streamen oder Netflix schauen. Die ewige Vereinzelung macht uns krank. Wir müssen sinnstiftende Gemeinschaften aufbauen, weg von großen Organisationen, Parteien oder Religionen. Ohne den Hintergedanken, damit Geld zu verdienen.
Wir müssen das zarte Pflänzchen der lokalen und dezentralen Vernetzungen und Verbindungen nähren. Es ist auch deswegen zart und fragil, weil die Traumata der vergangenen Jahre und Jahrzehnte in uns allen stecken.
Corona und die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit haben große Teile unserer Gemeinschaft entwurzelt, verstört und auf Jahrzehnte hin misstrauisch gemacht. Die Täter, denn sie waren Täter, leben heute wieder mit uns. Wollen wir auch sie dabei haben? Reichen wir ihnen, auf ein Neues, abermals die Hand?
Ich denke ja.
Was denken Sie?
Sie sind aus Leipzig und haben Lust auf sonntägliches Eisbaden? Schreiben sie mir: a.morhoff@stichpunkt-magazin.com
Über den Autor

Aron Morhoff
Aron Morhoff studierte Medienethik. Seine Schwerpunkte sind die gesellschaftliche Disruption, Fragmentierung und Entfremdung durch mediale und technologische Entwicklungen. Abschlussarbeiten u.a. zur Dynamik politischer Debatten in sozialen Netzwerken und der medialen Rezeption der Ausschreitungen in Chemnitz. Als Kolumnist, Autor und Podcaster aktuell u.a. für Manova und Michael Meyen. Seine Latenight-Liveshow heißt "Addictive Progamming".