Über das Erfolgsmantra lässt sich auch so nachdenken: Erfolg demütigt die, die keinen haben. Zudem muss der, der den Erfolg will, andere sozusagen „erlegen“, und also ist Erfolg unmoralisch. In der modernen westlichen Welt wird diese Position selten eingenommen, und wenn, dann vor allem von Kapitalismuskritikern. Dass sie hierzulande unpopulär ist, bedeutet nicht, dass sie weniger wahr ist als die eben uns geläufige Sicht, Erfolg sei bewundernswert, weil er von Fleiss, Streben und Disziplin zeugt.
Doch warum eigentlich sind wir von der einen Sicht mehr überzeugt als von der anderen? Boris Cyrulnik antwortet darauf mit seinem neuen Buch „Die mit den Wölfen heulen“, das in Frankreich auf Platz Eins der Bestsellerliste landete. Der international anerkannte Neuropsychiater führt unter anderem aus, warum sich der Mensch zu einer Gruppe zugehörig fühlen will und dadurch auch unhinterfragt deren Überzeugungen und Meinungen übernimmt. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu prägte für solche gruppeninternen Wirklichkeitsannahmen den Begriff Doxa; Cyrulnik spricht außerdem von „Clandenken“. Vermittelt würden dadurch „tröstliche Gewissheiten, ohne mich der Mühe des Nachdenkens unterziehen zu müssen“. Und genau das macht anfällig für Mitläufertum.
Allein: An Mitläufern besteht kein Bedarf.
Schon gar nicht in diesen Zeiten, in denen Angepasstheit und Duckmäusertum von Regierenden massiv eingetrichtert wird. Barbarei und Totalitarismus sind bereits Tür und Tor geöffnet. Doch das hält Menschen mitnichten davon ab, mitzumarschieren, wenn sie von der Gruppe, der sie sich zugehörig fühlen, dazu aufgerufen werden – und sei es im Namen der Regierung. „Es ist das Gefühl, Teil eines Ganzen zu sein, das wichtiger ist als man selbst“, heißt es in dem auf einer wahren Begebenheit basierenden Roman “Die Welle” von Morton Rhue. Das Zitat stammt aus einer Szene, in der Lehrer Ben Ross seinen Schülern den zweiten Leitsatz „Macht durch Gemeinschaft“ nahebringt. Die Gruppe, das sei das Ziel, solle über allem stehen, “wichtiger als man selbst”, man habe sich ihr völlig unterzuordnen; “ganz ergeben”.
Dass man sich dadurch von unabhängigem Denken verabschiedet und sich einschränkt in der freien Meinungsäußerung – ich muss schließlich immer sicherstellen ob die Gruppe akzeptiert, was ich denke, bis ich schließlich aufhöre, selbst zu denken – ist den Schülern nicht bewusst. Sie sind ganz und gar ergriffen von diesem aufkeimenden Wir, von dem Versprechen von Einheit und Zugehörigkeit – was aber ein Trugschluss ist. Das angebotene Wir ist eben keines, das auf Wahrhaftigkeit beruht, sondern auf Manipulation. Es ist ein Wir, das Regierende für ihre Zwecke instrumentalisieren. Es dient nicht einander, sondern den Mächtigen.
Das Totalitäre bleibt bei allem, was einem daran widerstrebt und angesichts der Historie auch widerstreben muss, für die meisten Menschen trotzdem eine Versuchung, der sie nur schwer widerstehen können.
Dafür verführbar zu sein, wird meist bereits in der Kindheit angelegt. Boris Cyrulnik legt auch das in seinem Buch dar: Je weniger geborgen sich ein Kind fühle, je weniger zuverlässiger seine Bezugspersonen seien, desto mehr klammere es sich an den Halt, der durch die Doxa angeboten wird. Je extremer die Positionen, umso mehr Sicherheit wird erfahren. Auch wer sich dem Wort eines verehrten Tyrannen unterwerfe, werde „ein Gefühl der Geborgenheit erleben.“
Der Weg aber zur inneren Freiheit, mit der das eigenständige Denken einhergeht, ist immer nur möglich für die, die das Ungewisse wagen, die ein Risiko eingehen, auch das, „von seinen Lieben gehasst (zu) werden“. Oder in anderen Worten des Autors: „Der Preis der Freiheit ist ein Unbehagen.“
Genau das gilt es, zu wagen.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.