Politiker setzen alles daran, die Bevölkerung dauerzubemuttern und damit in einem Zustand zu halten, als hätten die Bundesbürger gerade erst die Windel-Ära überwunden. Das geht schon länger so, doch in der Covid-19-Pandemie gab es kein Halten mehr: Die Regierung spielte sich als oberster Erziehungsberechtiger auf, der uns in alle Alltagsbelange reinredete, indem er etwa dezidiert Anleitung zum Händewaschen und Waschlappen-Gebrauch gab; auch Netflix-Verbot wurde angedroht. Zuzüglich verbaler Strategien des Kleinhaltens: Aha-Regeln, Wir-Formeln und „Doppel-Wumms“-Beschwichtigungen.
Nun muss man freilich fragen, warum sich – vermeintlich – erwachsene Menschen das bieten lassen; schließlich begehrte nur eine Minderheit dagegen auf. Mit Peter Sloterdijk kommt man der Antwort vielleicht näher. Der Philosoph stellte im ersten Teil seiner Sphären-Trilogie die These auf, Liebespaare neigten deshalb zur Symbiose, weil sie die pränatale Mutter-Kind-Dyade reproduzieren wollten. Zurück in den Uterus; die ewige Sehnsucht nach Rundumversorgung. Das scheint auch ganz allgemein ein Trend. Denn: Erwachsen sein ist anstrengend, Realität ist auch schmerzhaft. Bietet sich daher die Möglichkeit, entlastet zu werden, lässt man sich, je nach Bequemlichkeitsneigung, gar zu gerne verführen. Gut, wenn man dann alles, was nicht rund läuft, auf andere abschieben kann. Schuld ist dann wahlweise der Partner, der Chef, die Politik. An die Stelle der Eltern wird „Vater Staat“ gesetzt oder auch ihrerzeit „Mutti Merkel“.
Die sogenannte Infantilisierung ist, so betrachtet, keine intellektuelle Kränkung, sondern vielmehr eine durchaus willkommene Entwicklung. Der durch relativen Wohlstand noch verstärkt wird, da er einem erlaubt, nie „richtig“ erwachsen zu werden, ohne deswegen gleich in materielle Nöte zu geraten. Werbung steuert unser Konsumverhalten vorrangig so, dass das unersättliche Kind in uns angesprochen wird, um den Maß haltenden Erwachsenen in uns außer Gefecht zu setzen. Auch Medien tun das, in dem sie gerne derart Panik verbreiten, dass man sich mitunter am liebsten, wie einst als Kind, unter der Decke verstecken möchte. Der Medienwissenschaftler und Kulturkritiker Neil Postman wies bereits in den 1970er-Jahren darauf hin, dass ewig kindische Erwachsene und übrigens auch viel zu früh erwachsene Kinder eine Folge der Dauerberieselung durch Medien sind. Auch die Psychologie hat Erklärungen. Wenn die einzelnen Entwicklungsschritte vom Kleinkind- bis zum Erwachsenalter nicht adäquat bewältigt werden, fallen Menschen, besonders in Stresssituationen, auf frühere Stufen zurück.
Die Auswirkungen sind überall im Alltag zu beobachten. Spaß haben steht ganz oben; das Leben als Daueraufenthalt im Vergnügungspark. Wer nicht sofort bekommt, was er verlangt, reagiert wie ein trotziger Dreijähriger. Sechzigjährige Männer tragen Baseballkappen und knappe Shorts wie es auch pubertierende Jungs tun. Manager fahren im Anzug auf Elektro-Rollern herum und wirken dabei wie Kindergartenkinder. Mütter kleiden sich wie ihre Töchter. Frauen jenseits der Fünfzig nennen sich stolz „Mädels“. Bloß nicht in den Verdacht geraten, Verantwortung übernehmen zu müssen.
In Debatten ist längst schon alles aus dem Ruder gelaufen. Man bekämpft sich auf Sandkastenniveau, insbesondere in den sozialen Medien. Es finden hochemotionale Verbalschlachten statt, basierend auf kindlichem Gut-Böse-Denkmuster, das auch in Märchen bedient wird. Mit Reflexen wie „Der hat aber angefangen“ und „Du bist nicht mehr mein Freund.“ Permanente Rechthaberei, keine Kompromisse. Man wirft sich sinnbildlich auf den Boden wie ein Kind, das im Supermarkt nicht den ersehnten Schokoriegel bekommt. Besonnenheit, Selbstreflexion und Komplexitätsbewusstsein, die einen reifen Menschen ausweisen würden: Fehlanzeige.
Dass die Gesellschaft damit in voraufklärerische Zeiten zurückfällt, sich also nicht mehr aus ihrer, wie es Immanuel Kant formulierte, selbst verschuldeten Unmündigkeit befreien will, sondern sie vielmehr anstrebt, spielt einer Politik in die Hände, der jedes „Sapere aude“ ein Dorn im Auge ist. Aus „Habe Mut dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“ wird „Lass das Denken besser sein“ und „Wir denken für euch.“ Angestrebt wird der 24/7-Trottel, insbesondere von den Grünen, um rechtfertigen zu können, warum der Bürger gelenkt, kontrolliert, bevormundet werden muss. Pädagogischer Terrorismus auf dem Siegeszug. Freiheit? Kann weg. Das Sterben der Demokratie hat längst begonnen. Und wer das ewige Kind bleiben will, wer Verantwortung und Realität verweigert, wer jedes Regressionsangebot bereitwillig annimmt, trägt erheblich dazu bei.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.