Noch vor wenigen Jahren kam die Order, alle Risikogruppen vor einem
Virus zu schützen. Betroffene meldeten sich und gaben an, dass sie schon gut auf sich selbst achten könnten und gar nicht geschützt werden wollten. Nun ist die Demokratie an der Reihe. Permanent sind Appelle zu hören, die fordern, man solle die Demokratie schützen. Auch hier fragt niemand, ob sie das überhaupt will. Ist wirklich nötig, auf sie aufpassen zu müssen wie Helikoptereltern auf ihre Sprösslinge? Braucht sie nicht vielmehr unser Zutrauen, um in ihre Kraft zu kommen? Oder anders gefragt, wieviel Freiheit braucht Demokratie und wieviel Lenkung? Und wie bedroht ist die Demokratie eigentlich wirklich – und von wem?
Als jüngst in 80 Städten in Deutschland Aufmärsche „gegen Rechts“ stattfanden, applaudierten führende Politiker von CDU, Grüne und SPD, ja sie überschlugen sich regelrecht vor Begeisterung. „Vielen Dank für dieses klare Signal“, lobte etwa der bayerische Ministerpräsident Markus Söder. Kein Wunder, schließlich hatte unter anderem Olaf Scholz die Bundesbürger eigens dazu aufgerufen, sich gegen die Opposition zu positionieren; unter anderem willige regierungsfinanzierte NGOs übernahmen die Organisation. Und so skandierten die Gehorsamen in ihren Städten „Ganz München hasst die AfD“, „Ganz Köln hasst die AfD“, „Ganz Bremen hasst die Afd“.
An vielen Orten in Deutschland wird also ziemlich viel gehasst. Und zwar staatlich legitimiert. Über das in Teilen der Bevölkerung existierende Demokratieverständnis 2024 heißt das: Demonstrieren, hassen und hetzen sollte idealerweise nur der, der das mit offiziellem Einverständnis der Regierung tut.
Nun sind aber Demonstrationen dazu vorgesehen, die Bürger vor einem übergriffigen Staat zu schützen – und nicht, um in seinem Namen instrumentalisiert zu werden. Das Demonstrationsrecht ist festgeschrieben in Artikel 8 des Grundgesetzes. Die Grundrechte gelten als klassische Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Daraus folgt: Wenn eine Regierung zu Demonstrationen aufruft, dann ist das keine Demonstration, sondern eine Propagandaveranstaltung.
Der ganze Vorgang wird nicht weniger antidemokratisch, wenn man bedenkt, dass er auf diffusen, unprofessionellen und von linientreuen Medien nicht weiter überprüften Recherchen eines Netzwerks basiert, das mitunter regierungsfinanziert ist.
Den soldatischen Appellen, Demokraten müssten sich unterhaken und fest zusammenstehen, ist entgegenzuhalten, dass jede Gleichschritt-Ideologie hierzulande all denen, die nicht geschichtsvergessen sind, nicht geheuer erscheinen sollte. Auch Feindbilder, die von Regierenden extra geschaffen werden, um hemmungslose Hetze zu ermöglichen, sollten aus nachvollziehbaren Gründe keine Chance mehr auf Popularität bekommen. Zudem mit diffamierenden Etikettierungen inzwischen derart freigiebig umgegangen wird, dass sie in ihrer Bedeutung völlig verschwimmen.
Brutale NSU-Mörder stehen inzwischen auf gleicher Stufe mit Menschen, die einer Covid-19-Impfung ablehnend gegenüber stehen – beide werden als Nazi betitelt. Wer das unhinterfragt nachplappert, dürfte bezüglich seiner eigenen Propaganda-Anfälligkeit übrigens ziemlich ahnungslos sein. Und trägt überdies dazu bei, Straftäter und tatsächlichen Extremismus zu verharmlosen.
Wenn die Demokratie vielmehr gefährdet ist durch die, die sie schützen wollen, worum geht es dann tatsächlich? Die Ampel-Regierung hat deutlich an Zustimmungswerten verloren. Sehr wahrscheinlich ist daher das Bangen um den Machterhalt groß. Könnte es also sein, dass sich die Polit-Elite eigentlich weniger um die Demokratie sorgt als um sich selbst?
Die Unzufriedenheit der Bürger spricht jedenfalls eine deutliche Sprache. Herauszuhören ist dabei allerdings nicht, dass sie nach noch mehr Regulierung, Bürokratie und patriarchalen Strukturen rufen, sondern nach mehr Vertrauen, Dialog und Mitbestimmungsrecht. Es sind Befreiungsversuche und Bestrebungen wider die Gängelei, durch die sich vielmehr die Frage stellt: Wie lässt sich aus der Demokratie mehr herausholen?
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.