Infolge der Corona-Maßnahmen ist die Zahl an jungen Menschen mit psychischen Erkrankungen massiv gestiegen. Katrin Skala leitet die Akutstation der Universitätsklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Wiener Allgemeinen Krankenhaus (AKH).
Interview von Susanne Wolf mit Prof. Dr. Katrin Skala
SW: Wie haben sich die von der Regierung verordneten Maßnahmen während der Covid-19-Pandemie auf Kinder und Jugendliche ausgewirkt?
KS: In der Ambulanz für psychiatrische Notfälle am AKH stiegen die Akutvorstellungen ab Herbst 2020 relativ sprunghaft und sehr stark an. Leider haben wir bis heute keinen deutlichen Rückgang zu verzeichnen.
Ab dem Frühsommer 2020 wussten wir sehr gut, dass gesunde Kinder nur höchst selten schwer an COVID erkranken, ebenso gab es bereits im Sommer 2020 erste Daten zu den drastischen Auswirkungen der Schulschließungen. In Frankreich oder der Schweiz gab es aufgrund dieser Erkenntnisse keine Schulschließungen mehr, in Österreich wurde dieses Wissen ignoriert.
SW: Welche Erkrankungen traten bei Kindern und Jugendlichen infolge der Maßnahmen auf?
KS: Es gab einen massiven Anstieg an Essstörungen und an depressiven Störungen ab dem Winter 2020/21. Ab 2022 dann ein Anstieg beim Drogenkonsum, vor allem bei jungen Mädchen und sehr stark Benzodiazepine und Opiate betreffend, sowie eine Zunahme der Sterblichkeit durch diese Substanzen in dieser Gruppe. Wir hatten bereits 2021 mit 14- und 15-jährigen Heroinkonsumentinnen zu tun, die vor Covid Musterschülerinnen waren. Es fand generell auch eine Verschiebung zu Jüngeren statt. Vor dem Herbst 2020 hatte es keine Suizidversuche bis zu 11-Jährigen und so gut wie nie Heroinkonsumenten im Alter von 13 Jahren gegeben, seit der Pandemie gibt es solche Fälle. Auch haben sich Suizidversuche bei Jugendlichen mehr als verdoppelt.
SW: Wie ist der aktuelle Stand?
KS: Als im Sommer 2022 auch für die Kinder und Jugendlichen der Wahnsinn vorbei war, hofften wir, dass die Zahlen nun rückläufig sein würden – doch sie stagnierten oder stiegen weiter an. Depressionen, Suizidversuche, Suchterkrankungen – auch im Zusammenhang mit harten Drogen.
Die Zahl der Akutvorstellungen und der Bedarf an ambulanter Behandlung ist unverändert hoch.
SW: Sind auch das noch die Folgen der Corona-Maßnahmen?
KS: Es ist nicht mehr so eindeutig einzuordnen wie in den Jahren 2020 – 2022. Damals hörte ich viele Geschichten von Jugendlichen, die alleine zuhause saßen und nichts mehr tun konnten, was Freude bereitet, und in der Folge begannen, Substanzen zu konsumieren. Andere haben in dieser Situation eine Essstörung oder eine depressive Erkrankung entwickelt.
Wichtig ist wahrzunehmen, dass Kinder und Jugendliche ein starkes Sensorium für die Veränderungen in unserer Gesellschaft haben. Sie spüren die Verwerfungen zwischen den Erwachsenen, die Cancel Culture und Aggressionen. Covid ist nicht aufgearbeitet und die Auswirkungen auf die Gesellschaft sind katastrophal: Viele tragen noch einen großen Groll mit sich herum: Sie haben Kinder, die während jener Zeit psychisch erkrankt sind, haben ihre Existenzgrundlage verloren oder konnten sich nicht von sterbenden Angehörigen verabschieden. Aber anders als in anderen Ländern ist man in Österreich nicht imstande zu sagen, dass Fehler passiert sind, oder gar, sich zu entschuldigen. Genau solche Vorbilder bräuchten Kinder und Jugendliche aber.
SW: Hat es außer den Lockdowns und Schulschließungen weitere Auslöser für psychische Erkrankungen gegeben?
KS: Der Druck, sich impfen zu lassen, hat definitiv eine Rolle gespielt. Wir haben Jugendliche gesehen, für die der Impfdruck der Anlass für einen Suizidversuch war – weil sie von schulischen Aktivitäten ausgeschlossen wurden oder weil sie aus ihrem Sportverein flogen, wiewohl diese Dinge niemals politisch angeordnet worden waren. Willkür, vorauseilender Gehorsam und Blockwartmentalität haben dabei eine große Rolle gespielt – das war auch für viele Jugendliche gruselig.
Zudem gab es in vielen Schulen plötzlich die Front „Geimpft gegen Ungeimpft“ und die Kinder haben, wie so oft, die diesbezüglichen Differenzen auf Elternebene in der Schule ausgetragen. Dazu kam die Angstmache, dass Kinder schuld sein könnten, wenn Oma und Opa sterben – was vor allem in dem Wissen, dass Kinder ohnedies dazu neigen, sich für viele Vorgänge ihrer Eltern und Großeltern die Schuld zu geben, schon ziemlich infam war.
Das Vorschieben von Kindeswohl zur Durchsetzung von Interessen Erwachsener entspricht, nebenbei gesagt, den Kriterien des Kindesmissbrauchs.
SW: Gibt es weitere Auswirkungen aus dieser Zeit?
KS: Während Corona wurde wieder einmal deutlich, was Kinder in unserer Gesellschaft wert sind – und auch das haben die Betroffenen sehr klar gespürt. Kinder durften nicht auf den abgesperrten Spielplatz, während die Eltern beim Baumarkt waren. Sechsjährige brauchten einen PCR-Test fürs Freibad, während die geimpften Omas schon auf Weltreise waren. Zugleich waren Jugendliche stark in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Während Covid konnten sie nicht, wie es vorgesehen ist, beginnen, mit den Eltern zu streiten oder davonzurennen, sondern mussten zuhause hocken. Viele haben auch gemerkt, wie erschöpft die Eltern waren, und sich deshalb „zurückgehalten“.
SW: Gibt es Anhaltspunkte, wer besser durch die Corona-Krise gekommen ist als andere?
KS: Man kann sagen, dass es für ärmere Familien schwieriger war. Dazu gibt es valide Zahlen. Hier waren die existentiellen Sorgen und das Stresslevel größer, es gab offensichtlich auch mehr Aggression und häusliche Gewalt.
Ein wichtiger Anhaltspunkt ist auch: Wo Diskurs möglich geblieben ist – in Familien und Schulen – sind Kinder und Jugendliche besser durch die Krise gekommen. Und das täte unserer Gesellschaft auch so gut, da wieder hinzukommen.
SW: Wie wirken die allgegenwärtigen Krisen und Kriege sich auf die Psyche junger Menschen aus?
KS: Ich betrachte diese medial propagierte Endzeitstimmung, die Menge an Negativschlagzeilen prinzipiell kritisch.
Es ist allerdings auch so, dass Kinder unter 12 bis 13 Jahren nicht hinreichend abstrahieren können, um Angst vor Dingen zu haben, die in ihrem Leben keine konkrete Rolle spielen. Sowohl die Klimakrise als auch Kriege sind zu weit weg, zu abstrakt. Kinder sind bei diesen Themen nur dann affektiv betroffen, wenn etwa ein Flüchtlingskind in der Klasse sitzt und sie dessen Erlebnisse mitbekommen. Jugendliche können wiederum aktiv werden, auf Demos gehen, sich auf die Straße kleben, in Vereinen tätig werden. Solange man etwas tun kann, geht die Aggression nach außen und nicht nach innen, wo sie Depressionen den Weg bereiten kann – Depression hat immer auch mit Aggression zu tun.
SW: Was können wir tun, um Kinder und Jugendliche in dieser herausfordernden Zeit zu stärken?
KS: Ihnen klar machen, dass sie ihren eigenen Weg gehen können. Die Idee, dass man sich frei entwickeln kann, wohin auch immer, solange es im Rahmen der rechtlichen Normen ist, kommt zunehmend abhanden.
Jugendliche bekommen den Eindruck, dass sie nicht nur optisch 08/15 sein sollten, sondern auch, was ihre Ansichten betrifft – da gibt es einen Meinungskorridor, was erlaubt ist und was nicht. Früher waren Jugendliche freier in ihrer Wahl – da gab es Punks oder Popper oder Mods und diese Gruppen haben einander zwar teilweise bekämpft, aber letztendlich respektiert.
Wir Erwachsene können Toleranz vorleben und verschiedene Meinungen zulassen. Denn Toleranz bedeutet, nicht nur das gut zu finden, was zu meiner Weltanschauung passt – wirklich tolerant bin ich, wenn ich das toleriere, was mir an sich weh tut.
SW: Was bräuchte es vonseiten der Politik?
KS: In Großbritannien gibt es aktuell eine Entwicklung, die zum Ziel hat, Experten für Mental Health, also für die psychische Gesundheit, in fast allen politischen Gremien zu verankern. Dies hätte den Vorteil, den allerwichtigsten Bereich, die PRÄVENTION psychischer Erkrankungen stärker in alle politischen Entscheidungen miteinzubeziehen. Bei uns waren es während Corona vor allem Virologen, Physiker und Mathematiker, die das Sagen hatten – also ausschließlich Leute, die weder eine Ahnung von psychischer Gesundheit noch von Berufs wegen mit Menschen zu tun hatten. Die Gesundheitsversorgung sollte außerdem ein Stück weit weg von den Krankenhäusern und zu den Menschen nach Hause, etwa in Form von Home Treatments Teams. Und die Arbeitsbedingungen für Gesundheitspersonal müssen besser werden, sowohl was Wertschätzung als auch, was die Bezahlung betrifft. Die Regierung muss hier dringend mehr Geld in die Hand nehmen.
Susanne Wolf publiziert aktuelle Artikel auf Ihrer Substack-Seite – https://susannewolf.substack.com/
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Dieser Artikel erscheint in der Printausgabe Nr. 8 des Stichpunkt-Magazins
Über den Autor
Susanne Wolf
Susanne Wolf ist freie Journalistin und Autorin und begleitet schreibend den aktuellen gesellschaftlichen Wandel. Sie hat sich dem konstruktiven Journalismus verschrieben, der sich bei all den Herausforderungen unserer Zeit auf die Suche nach möglichen Lösungen macht. Dabei bleibt sie immer dem journalistischen Grundprinzip des kritischen Hinterfragens treu.