Das ist eine Liebeserklärung. Oder so etwas Ähnliches.
Ich trage euch im Herzen, euch alle, die ihr mit mir durch die letzten drei für uns alle sehr herausfordernden Jahre gegangen seid. Dass ihr viele seid, die Liste der Namen wäre lang, das ist alles andere als selbstverständlich, und ich kann nicht genug dankbar dafür sein, für euch, für unseren tiefen, herzenswarmen Zusammenhalt; Solidarität, in die wir nicht gezwungen werden mussten. Für unsere langen Gespräche, auch hier auf Facebook und WhatsApp, für unsere ausufernden Spaziergänge, auch im Dunklen, auch in Kälte, Picknick im Dezembernebel; für das Miteinander dort, wo wir woanders nicht willkommen waren, wo es hieß, ihr nicht, ihr müsst draußen bleiben.
Warum das nicht selbstverständlich ist? Weil es viele, viel zu viele Menschen gibt, die völlig allein gelassen wurden in ihrer Not, mit ihrer Entscheidung gegen ein medizinisches Produkt, das der gesamten Bevölkerung unter großem Druck aufgenötigt werden sollte, begleitet von, auf langen Strecken, täglichen Beschimpfungen, Diffamierungen, regelrechten Hetzorgien. Manche wurden aus der Familie ausgegrenzt, andere aus dem Freundeskreis; Sie wurden behandelt wie Aussätzige.
Ich war nicht allein, aber ich war, zusammen mit anderen, in Zuständen zwischen Fassungslosigkeit und Ohnmacht. Es gab Wut, Entsetzen, Erschöpfung, Traurigkeiten. Jeden Tag hörte ich neue Geschichten, wie brutal Gesellschaft sein kann. Und habe sie auch am eigenen Leib erfahren, kollektive Herzlosigkeit.
Die Diskriminierung gegen einen Teil der Bevölkerung war offiziell erlaubt, man verstieg sich sogar darin zu sagen, das sei gar keine Diskriminierung. Man wähnte sich in seinem Ausgrenzungsfuror völlig im Recht – und jeder, der sich anstecken ließ, sollte, wenn er vor sich als Mensch bestehen wollte, irgendwann dahin kommen, sich zu fragen, warum.
Überhaupt ist nun die Zeit gekommen aufzuarbeiten. Und zwar: Alle zusammen als Gesellschaft. Momentan habe ich den Eindruck, das soll weggedrängt werden, nach dem Motto: Jetzt ist es ja vorbei. Das zeigt mir einerseits, dass es vielleicht doch so etwas wie Scham gibt, dass man womöglich über die Stränge geschlagen hat. Es zeigt mir aber auch, dass mehrheitlich noch gar nicht begriffen wurde, was da wirklich geschehen ist in unserem Land.
Wir sind keine guten Aufarbeiter. Trotz der vielen, unermüdlichen, wertvollen Erinnerungsarbeit in unserem Land wurde in Bezug auf den Nationalsozialismus immer noch nicht genug: getrauert! Denn darum geht es. Ich erinnere mich gut an eine Aussage von Wolfgang Schmidbauer, in einer Psychotherapie sei die wichtigste Fähigkeit des Therapeuten, Trauer zu ermöglichen. Ein dazu passendes Buch, das wir unbedingt brauchen in diesen Zeiten, ist Alexander Mitscherlichs 1967 erschienenes Werk „Die Unfähigkeit zu trauern“. Er untersucht darin die Abwehrhaltung des Einzelnen und der Masse gegenüber Schuld und Mitschuld an politischen Verbrechen.
Auch das, was in der DDR geschehen ist und mit dem Osten Deutschlands in den Jahren nach der Wiedervereinigung, wurde noch längst nicht aufgearbeitet. Auch hier ein ähnlicher Reflex: Jetzt seid doch froh, dass ihr an den Westen angeschlossen seid, was wollt ihr denn. Wieder wollte man nicht zuhören und so tun, als sei alles in bester Ordnung.
Der Vergleich mit DDR und Nationalsozialismus ist nicht gewünscht, ich weiß, ich kenne das aus zig Diskussionen. Es wird einem dann unterstellt, man würde nicht den Unterschied kennen, was ich als nächste Herabwertung empfinde. Als wäre man so minderbemittelt, das nicht einordnen zu können. Dass aber bestimmte gesellschaftliche Mechanismen identisch sind, hat nichts mit den Umständen zu tun, sondern mit Psychologie – es gibt für Mächtige genug Lehrbücher dazu, unter anderem Gustave Le Bons „Psychologie der Massen.“ Und wer das nicht weiß, wer nicht einmal eine Ahnung davon hat, wie Manipulation und Propaganda funktioniert, der sollte das dringend nachholen, wenn er sich für aufgeklärt halten will.
Mache ich Vorwürfe? Ich will keine machen. Mich interessiert nicht, mein Herz zu verdunkeln und zu beschweren. Ich habe in den letzten Jahren zig Gefühle durch. Und momentan ist es so, dass alles in mir sagt, wir MÜSSEN aufarbeiten. Und dürfen da nicht lockerlassen. Weil wir endlich lernen müssen, WIE das geht. Und auch, weil ich weiß, dass viele, die ausgegrenzt wurden, das nicht so großzügig sehen wie ich, und, was ihr gutes Recht ist, weiterhin viel Groll in sich tragen. Ohne die Aufarbeitung können wir uns als Gesellschaft nicht erholen.
Es staut sich sonst immer weiter und weiter. Viele Menschen wollen das Klima retten, sie sagen, für unsere Kinder, für die Zukunft. Dabei übersehen sie, dass wir dringend das gesellschaftliche Klima retten müssen – sollen die Kinder und Kindeskinder unter anderen Vorzeichen irgendwann wieder das ganze Ausgrenzungsprogramm erfahren müssen?
Daher: Es geht JETZT darum hinzuschauen.
Ohne Ausreden. Dass man das und jenes nicht gewusst hat, hat in der Zeit des Internets damit zu tun, dass man sich zu einseitig informiert hat. Die allermeisten Informationen, die in Talkshows und Mainstream-Presse größtenteils verschwiegen wurden, hätte man lange schon haben können, wenn man wollte, das meiste war lange bekannt, wurde aber als „Verschwörerisches“ gebrandmarkt. Und gilt heute plötzlich als „haben wir doch schon immer gewusst“.
Was ist geschehen?
Mit uns allen? Und wann trauern wir zusammen?
Dieser Beitrag erschien in der Ausgabe Nr.4 des Stichpunkt Magazins
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.