Moin Leute, ich grüße Euch wieder. Ich bin ja bis zu meiner Pensionierung unter anderem auch Lehrerin für Physik gewesen und habe meinen Schülern nahegebracht, wie Alltag und Quantenphysik zusammenhängen. Meine ehemalige Bridge-Kollegin Sandra und mein Ex-Gatte Ludger haben mir allerdings in der vergangenen Woche klar gemacht, wie ein berühmtes Gedankenexperiment des Quantenphysikers Schrödinger mit dem Oktoberfest zusammenhängt. Doch ich fange am besten von vorne an.
An manchen Tagen ist es doch einfach besser, man legt sich gleich nach dem Aufstehen wieder ins Bett. So einen Tag hatte ich in der vergangenen Woche.
Anstatt wieder zurück ins Bett bin ich am Dienstag auf den Wochenmarkt gegangen, weil ich an verregneten Tagen immer so Hunger auf Original Nürnberger Rostbratwürste bekomme, die ich mir regelmäßig an einem Stand für bayrische Spezialitäten kaufe. Das war ein Fehler, denn wen entdecke ich vor mir in der Warteschlange: Meinen Ex-Gatten Ludger und – jetzt haltet Euch fest – meine ehemalige Bridge-Kollegin Sandra – Arm in Arm. Ich will mich nach anfänglicher Schockstarre wegschleichen, da dreht sich Ludger zu mir um und ruft ganz euphorisch: „Na, Ilse. holst Du Dir wieder Deine Würste?“, wobei er jovial den Arm um Sandras Schulter legt. Ich starre beide nur an und versuche, den Anblick dieser skurrilen Pflege-Gemeinschaft zu verarbeiten. Sandra hatte schon immer eine Heidenangst davor, im Alter alleine zu bleiben, aber jetzt mal im Ernst: Ludger?
„Sandra und ich haben uns ja in Bayern die Originalwürste gekauft“, unterbricht Ludger meine Gedanken und erklärt eifrig: „Wir waren auf dem Oktoberfest und haben Original- Weißwurst gegessen. Stell dir vor, neben wem wir gesessen und geschunkelt haben…“. Ludger wartet einen Spannungsmoment ab und platzt dann mit stolz durchdrungener Stimme heraus: „Söder! Der ist ja so nett. Er hat uns erzählt, dass er sich schon die ganze Zeit auf die Wies´n gefreut hat, jetzt, wo dieses supertolle Fest doch schon zweimal wegen der Pandemie ausgefallen ist…“
Ich mache instinktiv drei Schritte zurück. „Moment mal. Du meinst Markus Söder? Also denjenigen, der im April dieses Jahres noch gesagt hat, dass er ein Aussetzen der Maßnahmen kritisch sehen würde und der den Gesundheitsminister sinngemäß dafür kritisiert hat, selbiger würde jeden Tag das komplette Gegenteil vom vorigen Tag verkünden? Also der Söder, der sich jetzt auf einmal für Lockerungen einsetzt und das Oktoberfest, das größte Fest der Welt, ohne vorher für wichtig erachtete so genannte „Corona-Schutzmaßnahmen“ wie Test – oder Maskenpflicht hat stattfinden lassen, weil wir ja alle vorsichtig bleiben und mal wieder Lebensfreude und Tradition brauchen? Der Wirtschaftswert des Oktoberfestes 2019 betrug 1,25 Milliarden Euro. Aber damit hat das ja nichts zu tun“, ereifere ich mich.
„Siehst du“, sagt Ludger zu seiner neuen Pflegekraft, äh Freundin: „genau das meine ich!“. Sie nickt ihm wissend zu und er ranzt mich in gewohnter Manier an: „Was regst du dich eigentlich so auf? Bist du bescheuert? Wir müssen doch alle mal feiern dürfen. Du machst hier alles kaputt und kaufst dann heimlich deine Würste am Bayernstand“.
„Jetzt mach aber mal halblang“, halte ich ihm daraufhin entnervt entgegen. „Angeblich steigen jetzt nach dem Oktoberfest die Zahlen. Erst hieß es, dass wir locker feiern dürfen, dann heißt es jetzt, dass Experten sich um den Anstieg der offiziellen Fallzahlen Sorgen machen. Was denn jetzt? Der Virus ist also da, oder nicht. Je nachdem, wer der Beobachter ist, oder was? Das ist ja wie bei Schrödingers Katze“.
„Fängst du jetzt noch mit deiner Russenkatze an. Hier steigen wegen des Ukraine-Krieges die Energiepreise auf besorgniserregendes Niveau an und du…“
„Herr im Himmel, Du Superhirn. Meine „Russisch-Blau liebt zwar Schachteln, aber Schrödingers Katze ist ein reines Gedankenexperiment in der Quantenphysik. Google das mal. Die Teilnehmer des Oktoberfestes sind die Katze in der Box. Theoretisch kann die Katze an einer giftigen Substanz, in diesem Fall dem Virus, sterben. Wenn die Katze den in der Box befindlichen Detektor zum Auslösen einer tödlichen Menge Gift unberührt lässt, ist sie lebendig, wenn sie ihn auslöst, tot. Sie ist also gleichzeitig tot und lebendig, denn nur, wenn man die Box öffnet, findet man heraus, ob die Katze lebt oder das Zeitliche gesegnet hat.“
„Willst du mir mit dem pseudo-intellektuellen Geschwurbel sagen, dass ich das Zeitliche segnen soll, oder was?!“, brüllt Ludger mich an. Die Leute am Bayernstand drehen sich irritiert um. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen, sage aber.
„Wieso, ist doch wahr. Je nachdem, welcher Politiker oder Experte auf das Oktoberfest blickt, ist entweder der Meinung, dass die Pandemie tödlich ist oder nicht tödlich. Die Teilnehmer des Oktoberfestes sind gleichzeitig infiziert und nicht infiziert. Oder hast du eine bessere, wissenschaftlichere Erklärung für die Widersprüchlichkeiten in der Corona-Politik?“, frage ich, schaue beide provozierend an und nutze die entstandene Sprachlosigkeit, um auf dem Absatz umzukehren und unter Verzicht auf meine Lieblingswürste den Heimweg anzutreten.
Also passt auf Euch auf und wenn ihr gleich direkt nach dem Aufstehen merkt, dass mal wieder einer dieser Tage ist: Legt Euch doch ruhig wieder hin. Bis nächsten Samstag, Eure Ilse
Dieser Artikel erscheint in Ausgabe 2 des Stichpunkt Magazins am 24.10.2022
Über den Autor
Christiane Borowy, Jahrgang 1968, ist Soziologin, Sozialpsychologin, Körperpsychotherapeutin und Sängerin. Sie ist Gründerin und Leiterin des seit Ende 2015 bestehenden „borowita — Institut für Sozial-Kulturelle Arbeit“. Mit ihren Seminaren zur persönlichen und politischen Bildung, beispielsweise mit „Hurra, wir streiten uns - wie man gewaltfrei kommuniziert“, setzt sie ihre Vision harmonischer Gemeinschaftsbildung um.