Antoine Roquentin ist der Protagonist aus Jean-Paul Sartres Roman „Der Ekel“. Eines Tages wacht er auf und stellt fest, dass sein Leben nicht mehr wie gewöhnlich weitergeht. Ein Stück Papier, ein Kieselstein, selbst seine eigene Hand lösen in ihm Ekel aus. Dieses Unbehagen hört nicht auf, im Gegenteil, es ist wie ein Sog, in den er immer weiter reingezogen wird. Schließlich geschieht, dass er sein Gesicht nicht als solches identifizieren kann. Er sieht zwar dessen Einzelteile wie Stirn, Augen, Nase und Mund, aber er empfindet sie nicht als zu seiner Person gehörend. Als wäre er abgeschnitten von sich selbst, als wäre es das Gesicht eines Fremden.
Was überhaupt heisst es, ein Gesicht zu haben? Gewiss ist, man hat es zuallererst nicht für sich, sondern für den anderen. Das Gesicht als Dialogangebot. Das verhindert wird, wenn beispielsweise muslimische Frauen sich verschleiern oder Regierungen der Bevölkerung pandemiebedingt anordnen, sich mit einem Mund-Nasen-Schutz zu bedecken. Dahinter verschwindet dann das, „Antlitz des Anderen“, wie Emmanuel Levinas das ausdrücken würde. Der französisch-jüdische Philosoph, 1905 geboren, 1995 gestorben, gehört zu den Denkern eines extremen Humanismus, der zentral darüber nachdachte, wie und unter welchen Voraussetzungen Menschen in eine Begegnung finden – wie können sie sich einander zuwenden und einander zugewendet bleiben? Das „Antlitz“ ist dabei sein Kernmotiv.
Der Andere, der sich durch das Gesicht offenbart, ist das erste was der menschliche Geist erkennen kann, noch bevor er durch Kultur geprägt wird. Das „Antlitz des Anderen“ fordert zur Konfrontation mit dem Du, man kann nicht entkommen, es treibt gemäß Levinas aus der Gleichgültigkeit heraus. Darin steckt auch der Gedanke, dass jeder Mensch für seine Mitmenschen eine Verantwortung hat, egal, ob man diese will oder nicht. Von Angesicht zu Angesicht ist demnach die vielleicht letzte Chance des Ethischen im Bezug zum Anderen: Kann man den, den man anblickt, verletzen? Kann man ihn töten? Levinas zufolge gibt es beim Blick in das Gesicht eines anderen Menschen einen Moment der Irritation, der schweigend sagt: „ Du wirst nicht töten.“
Daran weiterdenkend, wäre kriegerisches Abschlachten nicht oder nur schwer umsetzbar, würden die Beorderten sich dem Antlitz des Anderen stellen. Massenhaftes Morden ist nur möglich, wenn es anonymisiert geschieht, wenn der andere kein Gesicht hat, wenn er zum Objekt degradiert wird. Erleichtert wird diese Entmenschlichung dadurch, dass das Abwerfen von Bomben längst per Knopfdruck geschieht und aus kilometerweiter Entfernung. Was wiederum eine gute Nachricht ist über den Menschen, dass er nämlich, mir dem niederländischen Philosophen Rutger Bregman gesprochen, im Grunde gut sei, er also nicht seinesgleichen töten würde, wenn er in ihm den Menschen erkennt, der er selbst ist.
Emmanuel Levinas sieht jeden Menschen, auch den grausamsten Verbrecher, als den, der er vor jeder moralischen Aburteilung eben ist: Der andere Mensch, der Nächste. Daher behandelt er, der zwischen jüdischer Tradition und griechischer Philosophie stand, in seinen Werken die Abgründe der Menschheit nur am Rande, sondern bleibt stringent dran, den Menschen als den zu denken, der durch die Begegnung mit dem anderen zur Bejahung des anderen kommt. Und also nicht die Zerstörung seines Gegenüber will, da er in letzter Konsequenz dann auch seine eigenen Vernichtung bejahen müsste. Zu Täuschungen lässt sich Levinas allerdings nicht verführen: „Ich meine nicht, dass die Menschen alle heilig sind. Ich sage aber Mensch-Sein ist, die Heiligkeit verstehen.“
Solange wir unser Gesicht vor dem anderen verbergen, finden nicht nur wir selbst, sondern auch der andere nicht in sein wahres Mensch-Sein.
Trotzdem tragen immer noch viel zu viele Menschen Maske. Damit sind übrigens nicht die Pandemie-Masken gemeint.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.