Bekannt geworden ist die Bemerkung Helmut Schmidts in Bezug auf Willy Brandts Visionen im Bundestagswahlkampf. Im Jahr 1980 sagte der damalige Bundeskanzler in einem Interview: „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen.“ Das klingt so als wären Visionen etwas, was man behandeln müsste wie Migräneattacken oder Bauchschmerzen. Man fällt in die Kategorie Patient. Und ist also nicht ganz gesund? Der Visionär als Problemfall?
Diese Zeiten scheinen Hochzeiten zu sein für Menschen mit Visionen. Transhumanisten begeistern sich dafür, durch die Fusion mit Technologie die nächste Evolutionsstufe der Menschheit erreichen zu wollen. Andere glauben daran, dass erst durch den weitestgehenden Verzicht auf Technologie die Welt eine bessere wäre. Es wird darüber nachgedacht, wie man in kleinen Gemeinschaften gut zusammen leben kann und wie möglichst autark. Das sind nur zwei Beispiele von vielen, aber solche, die in der Gesellschaft häufig anzutreffen sind.
Allen Visionären gemein ist, dass sie eine genaue Vorstellung davon haben, wie es einmal sein soll. Man hat ein Ziel, auf das man sich fokussiert und hinbewegt. Mitunter ist man Einzelkämpfer, oft organisiert man sich im Kollektiv. Was nicht in das imaginierte Bild hineinpasst, wird schnell aussortiert oder vorsorglich ausgeklammert. Je präziser die Vision, desto schneller nähert man sich ihr an, mitunter braucht es eine Feinjustierung.
Wer eine Vision hat, signalisiert, dass er mit dem Zustand, den er gerade vorfindet, nicht einverstanden ist. Ein Blick in die Welt genügt, um nachzuvollziehen, warum es nicht so bleiben kann wie es ist. Wollen wir nicht alle das überwinden, was den Menschen existenziell bedroht, was ihm seine Würde nimmt und seine Lebensgrundlagen? Wer könnte ernsthaft etwas dagegen haben, dass Kriege, Krankheiten, Armut und Not ihr Ende finden? Es ist natürlich wahr, dass ausgerechnet daran Milliarden verdient werden; an einer Welt mit gesunden und friedvollen Menschen würden Pharma- und Rüstungsindustrie zugrunde gehen. Umso dringlicher scheint eine Vision, die hilft, dahin zu wirken, dass genau das geschieht.
Doch so dienlich eine Vision auch ist, so besteht die Gefahr, dass sie dazu verleitet, mit der Gegenwart in einem ständigen Konflikt zu sein. Alle Gedanken stehen dann mit der Wirklichkeit im Widerspruch, man reibt sich an ihr, man arbeitet sich an ihr auf. Das klingt nicht nur anstrengend, das ist es auch. Nun ist sicher nichts dagegen einzuwenden, Anstrengungen auf sich zu nehmen, ist der Mensch doch sehr wahrscheinlich nicht dazu da, sein Dasein als Chipsesser auf dem Sofa zu verbringen. Und doch lohnt, darüber nachzudenken, dass auch Visionen ihre unerwünschten Nebenwirkungen haben, sofern man sich in ihnen verbeißt.
So schön es auch ist, sich eine andere Zukunft zu erträumen, und so notwendig angesichts der weltweiten Missstände, so kann geschehen, dass man sich derart verhärtet in Bezug auf die Realität, die man gerade vorfindet, dass man sich gar nicht mehr auf sie einlassen kann. Die Zukunft wird wichtiger als die Gegenwart. Allein: Wer liebt, der liebt nicht morgen, sondern jetzt. Das heißt, der, der sich liebend der Welt zuwenden will, braucht vor allem die Befähigung, das zu akzeptieren, was gerade ist.
Ja, das mag provokant klingen. Aber oft geschieht Wandel gerade dadurch, dass wir eben nicht in den Kampf gehen, sondern in die Annahme. Dann erst werden Kräfte frei, die Prozesse in Gang setzen, die wir nicht für möglich gehalten hätten. Es ist ein Irrtum zu glauben, man verliere dadurch jede Motivation zu handeln. Ein nächster Irrtum ist, dass man es sich damit leicht machen würde. Etwas oder jemanden anzunehmen, wie es oder er ist, gehört wohl zum Schwersten überhaupt.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.