Im Kühlregal stehen sie aufgereiht, Joghurts aller erdenklichen Sorten: Himbeere, Zabaione-Mandel, Ananas-Kokosnuss, Mohn-Marzipan, Minze-Johannisbeere. Im Schokoladenregal dasselbe Spiel: Zartbitter, Karamell, Traube-Nuss, Vanillemousse, Knusperflakes. Jeder Supermarktbesuch reiht Entscheidung an Entscheidung; wie haben die viel zitierte Qual der Wahl. Auch anderswo. Sei es beim Kauf eines neuen Smartphones, eines neuen Fahrrads oder eines neuen Schreibtisches. Als Konsument sind wir ständig damit beschäftigt, zu überlegen, was wir gerade brauchen und was nicht. Gleichwohl wir das wenigste, was wir glauben zu brauchen wohl tatsächlich brauchen; aber das ist ein anderes Thema.
Während der kapitalistisch geprägte Mensch sich im El Dorado wähnt, solange er sich jedenfalls leisten kann, was er sich ersehnt, sieht es für den politisch Interessierten weniger erbaulich aus. Während die einen inzwischen glauben, sie hätten nurmehr die Wahl zwischen Pest und Cholera, ätzen und hetzen andere gegen die, die ihre Entscheidung nicht nach dem richten, was die öffentlich-manipulierte Meinung suggeriert. Das ist nicht nur schlecht fürs gesellschaftliche Klima, sondern beschädigt die Demokratie. Sobald von Alternativlosigkeit die Rede ist, sollten wir alarmiert sein. Ebenso, sobald andere uns ihre Entscheidungen aufzwingen wollen. Ein Blick in die Geschichte genügt, um sich klar zu machen, dass jedes Unheil mit der Verengung von individuellen Entscheidungsräumen seinen weiteren Lauf nahm.
Dies ist kein Plädoyer für diese oder jene Partei, sondern für die grundsätzliche, jedem stets zustehende Wahlfreiheit und damit für die Würde des Menschen. In seinen Tagebüchern erläutert Max Frisch wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Ein Auszug: „Die Würde des Menschen, scheint mir, besteht in der Wahl. (…) Darum möchten wir eine Ordnung, die niemanden der Wahl beraubt…Wenn aber dieses Streben, dass alle in ganzen Schuhen gehen und dass keiner durch die wirtschaftliche Ordnung gezwungen und somit um die Wahl und um die Würde betrogen wird; wenn dieses große und unerlässliche Streben dazu führen sollte, dass man es mit einem Staat versucht, der meinem Denken fortan keine Wahl mehr lässt, was haben wir erreicht?“
Nun wäre natürlich zu fragen, wer die Wahl trifft. Sind wir es selbst? Gibt es das konstante Ich überhaupt? Hier finden sich weder in Philosophie noch Forschung eindeutige Antworten. Wie stark ist die Ratio beteiligt? Braucht es eine genaue Abwägung der Argumente? Oder ist der Intuition mehr zu vertrauen? Wahr ist sicher, dass jeder beeinflusst und manipuliert ist und sich daher nicht immer oder erst bei sehr genauer Betrachtung sagen lässt, wie eine Entscheidung überhaupt zustande kommt. Dass immer mehr Menschen es allerdings als Last empfinden, sich entscheiden zu müssen, zeigt die erhebliche Tendenz, sie in andere Hände geben zu wollen. Die einen setzen auf Berater, andere auf Wahrsagerei, wieder andere orientieren sich an den Medien. Oder an der Politik.
Spätestens seit der Corona-Pandemie setzt die Regierung alles daran, die Bevölkerung dauerzubemuttern und damit in einem Zustand zu halten, als hätten die Bundesbürger gerade erst die Windel-Ära überwunden. Sie spielt sich als oberster Erziehungsberechtiger auf, der uns in alle Alltagsbelange reinredet, indem er etwa dezidiert Anleitung zum Händewaschen und Waschlappen-Gebrauch gibt. In der Hoffnung, dass die Bürger auf dem Kleinkind-Niveau, in das sie zurückversetzt werden sollen, nicht mehr auf ihre Mündigkeit bestehen und damit auch nicht auf ihre Entscheidungsfreiheit. Das gibt jeder Agenda freie Bahn. Es steht nicht mehr zur Wahl, wie wir auf das Klima reagieren, sondern die Marschrichtung ist bereits vorgegeben.
Lassen wir uns nicht beirren. Lassen wir uns nicht nehmen, auf einer Wahl zu bestehen. Gerade da, wo man sie uns nicht gestatten will. Nochmal Max Frisch: „Die Würde des Menschen (…) ist die Wahl; nicht die Badewanne, die der Staat ihm liefert, wenn er nicht am Staate zweifelt. Wie soll ich glauben
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.