Neulich in einer ZDF-Talkshow. Zwei Frauen sprachen mit sehr ernsten Gesichtern über Diskriminierung. Beziehungsweise über das, was sie dafür halten. Denn inzwischen wird der Begriff so inflationär gebraucht, dass die Ernsthaftigkeit des Themas abhandengekommen ist. Man hat das Gefühl, die wahren Betroffenen werden immer mehr in den Hintergrund gedrängt zugunsten aller möglichen Befindlichkeiten. Ebenso wie man neuerdings zwischen zig angeblichen Geschlechtern die Wahl haben möchte, scheint dazuzugehören, sich diskriminiert zu fühlen. Es ist Mode, ein Trend. Anders gesagt, wer am Ende eines Tages keine einzige Benachteiligungserfahrung vorweisen kann, hat irgendetwas falsch gemacht.
Was nur ist geschehen? Wird Diskriminierung sichtbarer, weil offener über sie gesprochen wird? Geschieht sie inzwischen häufiger? Oder sind die Menschen empfindlicher geworden? Steuern wir etwa auf eine Gesellschaft zu, die dauernd in Watte gepackt werden muss?
Es gibt Menschen, die halten es für eine gute Idee, permanent laut aufzuschreien, weil sie überall die Grenze des Sag- und Zumutbaren wittern. Ein falsches Wort, und schon ist das Getöse groß. Immer häufiger werden Film-, Serien- und Buchinhalten Triggerwarnungen vorangestellt. Also Hinweise auf Inhalte, die Menschen verstören, kränken oder gar traumatisieren könnten. Insbesondere in der dogmatischen Welt der Woken kann gar nicht genug gewarnt werden. An Universitäten in den USA wurde sogar gefordert, das Wort „verletzen“ nicht mehr zu verwenden, weil es jemanden verletzen könnte. Unangenehme Gefühle – bloß nicht. Allein: Damit wird eine Welt kreiert, die mit der Realität, die nun mal ihre Unannehmlichkeiten hat, nichts mehr zu tun hat.
Es scheint, als würden wir gerade den Kipppunkt fortschreitender Sensibilisierung erleben, zumindest gemäß der Analyse Svenja Flaßpöhlers, die sich umfassender mit dem Thema befasst hat. Die Philosophin weist darauf hin, dass die Sensibilisierung, menschheitsgeschichtlich betrachtet, für Fortschritt steht, etwa indem sich Menschen wechselseitig in ihrer Verletzlichkeit schützen, ihre Empathiefähigkeit ausbilden und lernen, sich mit anderen zu solidarisieren. Zugleich hat diese Entwicklung eine Kehrseite: Sie zersplittert irgendwann die Gesellschaft, anstatt sie zu verbinden.
Jeder hat freilich ein Recht auf seine Empfindlichkeiten. Dennoch nährt die Bereitschaft, sich diskriminiert zu fühlen, die Opferhaltung. Man schwächt sich damit selbst. Eine andere Idee wäre, zu lernen, nicht immer alles persönlich zu nehmen und sich nicht immer sofort gekränkt zu fühlen. Man kann Diskriminierungen auch herbeibeschwören und sie auch dort wittern, wo sie überhaupt nicht ist.
Vor allem sollten wir wieder mehr über uns selbst lachen.
Das bedeutet auch, sich selbst nicht so ernst zu nehmen und nicht so wichtig.
Besonders schwer fällt das bekanntlich Narzissten. Insofern lässt sich auch darüber nachdenken, ob die Anfälligkeit, sich diskriminiert zu fühlen auch eine Folge einer narzisstischen Gesellschaft ist.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.