Weltweit ist viel in Bewegung, doch wohin bewegt es sich eigentlich? Bewegung ist das Medium, mit dem und über das der Mensch die Welt erfasst und das ihn als Macher, als Gestalter definiert. Ob die Dinge dadurch besser oder schlechter werden, ist eine Frage des Blickwinkels – auf jeden Fall werden sie anders.
Aber: Kommt überhaupt noch etwas Neues? Friedrich Nietzsche würde dem wohl eine Absage erteilen. Der Philosoph sprach von der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“, was erstmal wenig erbaulich klingt. Als wären wir auf ewig gefangen in einem „Und täglich grüßt das Murmeltier“, egal wie sehr wir bestrebt sind, uns und die Welt neu erfinden zu wollen. In der „Fröhlichen Wissenschaft“ führt Nietzsche das, was seinen – vor allem späteren – Werken elementar zugrunde liegt, weiter aus: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen (…) Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!“
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Sind wir fähig, das zu bejahen? Was auch bedeuten würde, so zu leben, dass jeder Augenblick unseres Lebens wiederkommen darf. Wenn gelingt, uns dazu durchzuringen, wäre das eine Art von Erlösung? Dass die beständige Wiederholung ebenso gut eine Hölle sein kann, zeigt Simone de Beauvoir in ihrem 1946 erschienenen Roman „Alle Menschen sind sterblich“ auf. Im Zentrum steht Fosca, der als ein träger, ja im Grunde unbeweglicher Charakter vorstellig wird – er sitzt Tag und Nacht, bei Wind und Wetter, auf der Terrasse eines Hotels und wirkt wie erstarrt. Bald schon wird klar, wie es dazu kam: Fosca hat bereits 650 Jahre hinter sich gebracht und wird auch in Zukunft nie aufhören zu existieren; er ist unsterblich. Gewonnen hat er dadurch nichts: Nach all den Jahrhunderten hat für ihn alles an Bedeutung verloren. Wiederholung und Ewigkeit haben die Dinge und Ereignisse völlig beliebig gemacht.
Seinen Beobachtungen zufolge ist es immer dasselbe: Der Mensch scheitert – am Menschen. „Man kann den Hunger besiegen, man kann die Pest überwinden: aber wird man der Menschen Herr?“, fragt sich Focsa und kennt zugleich die Antwort. Immer dieselben unerfüllbaren Sehnsüchte, immer dieselben vergeblichen Hoffnungen, immer dieselben Unzufriedenheiten, immer derselbe Drang nach Veränderung. Letztlich aber: Kein Fortschritt nirgends. Wovon also reden wir, wenn wir von Fortschritt reden, etwa von einer Illusion? Wie soll es sich eigentlich einstellen, das Neue? Woher kann es überhaupt kommen? Aus uns selbst oder aus dem Nichts?
Ohnehin, wer definiert die sogenannte „bessere Zukunft“? Transhumanisten begeistern sich dafür, durch die Fusion mit Technologie die nächste Evolutionsstufe der Menschheit erreichen zu wollen. Andere glauben daran, dass erst durch den weitestgehenden Verzicht auf Technologie die Welt eine bessere wäre. Es wird darüber nachgedacht, wie man in kleinen Gemeinschaften gut zusammen leben kann und wie möglichst autark. Allein: Was geschähe, wenn wir kein Ziel hätten, auf das wir zusteuern?
Wissen wir denn tatsächlich, was wir suchen? Und was finden wir, wenn wir nicht finden wollen? Der deutsche Philosoph Walter Benjamin hat den Flaneur ins Bewusstsein gebracht und damit eine Lebenshaltung, die auf dem Unbestimmten fußt. Flanieren ist ein vom Zufall inspiriertes Gehen. Man sucht nichts und findet doch etwas. Man spekuliert auf ein Glück, das sich im Finden des Nichtgesuchten einstellt. Gerade weil der Flaneur frei über Ort und Zeit verfügt, kann er die Dinge anders in den Blick nehmen. Und damit neu. Vielleicht geschieht dadurch die Revolution, die wir gerade so dringend brauchen.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.