Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos ist zum traurigen Symbol für den Umgang der EU mit der sogenannten »Flüchtlingskrise« geworden. Das Buch “Inside Moria – Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit” ist ein Zeitdokument. Eine kraftvolle Anklage gegen die europäische Flüchtlingspolitik und ein Appell an die Menschlichkeit. Es stellt die Frage, wie ein Kontinent, der sich auf Menschenrechte und Solidarität beruft, solche Bedingungen an seinen Außengrenzen zulassen kann, und fordert die Leser auf, sich mit der moralischen Verantwortung Europas auseinanderzusetzen.
Buchempfehlung von Evelyn Ritt
Die Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk hat zwischen 2015 und 2023 regelmäßig als Helferin in Moria gearbeitet und gemeinsam mit ihrer Co-Autorin Guro Kulset Merakeras das Leben der Menschen im Lager dokumentiert. In Wort und Bild wird der Alltag der Menschen, die in Moria lebten, erstmals nachvollziehbar. Dabei nimmt die Erzählung 2015 recht unverhofft ihren Lauf. Mit “Kalt erwischt” beginnt eine Reise, die für die Kinderpsychologin bis heute nicht beendet ist. Sie schildert die chaotische Situation auf der Insel, als immer mehr Menschen in einfachen Zelten oder unter freiem Himmel ausharren müssen, da es an Unterkünften und Unterstützung fehlt.
“Merkels humanistische Annäherung war als eine offene Einladung aufgefasst worden, woraufhin der Strom an Menschen, die in Deutschland Asyl beantragen wollten, endlos schien”, schreibt Brubakk. Das Erstaufnahmelager Moria war für 3000 Personen gedacht, teilweise mussten dort über 20000 Menschen beherbergt werden, die nach dem gefährlichen Weg über das Mittelmeer erschöpft, verletzt und oft traumatisiert ankamen. Menschen, die aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und anderen Krisengebieten vor Krieg, Verfolgung und Armut geflohen sind und Zuflucht suchten.
“Die Boote aus der Türkei kamen in einem gleichmäßigen Strom. Freiwillige hielten tagsüber Wache an den Stränden und spähten und lauschten des Nachts über das dunkle Meer. Dass jemand am Strand war, wenn nachts ein Boot anlandete, konnte zwischen Leben und Tod entscheiden.”
Um zu verstehen, welche Auswirkungen und Folgen politische Fehlentscheidungen und die daraus resultierende Situation für die Menschen vor Ort aber auch für die Gesellschaft hat, helfen im Buch kurze psychologische Fachbeiträge. Was macht es mit Menschen, die trauern, wenn um sie herum die meisten anderen ebenfalls trauern? Wie gehen Kinder mit Verlust um? Und welche Rolle spielt Hoffnung?
“Furcht kann innerhalb eines Augenblicks entstehen; die Sicherheit wiederzufinden, braucht jedoch Zeit. Oft sehr viel Zeit.”
Ein Thema des Buches ist der sogenannte „moralische Stress“, dem die Helfer und die Geflüchteten gleichermaßen ausgesetzt sind. Dieser beschreibt die psychische Belastung, die entsteht, wenn Menschen sich gezwungen sehen, gegen ihre moralischen Überzeugungen zu handeln oder diese aufgeben zu müssen, um in der Extremsituation zu überleben.
“Werte und Identität sind eng miteinander verbunden. Gemäß den eigenen Werten leben zu können, ist mit guter psychischer Gesundheit verbunden. Werden wir gezwungen, Entscheidungen entgegen unseren Werten zu treffen, wird uns moralischer Schaden zugefügt. Für manche ist die Schwere der Selbstanklage so groß, dass sie Mühe haben weiterzuleben.”
Die persönlichen, erschütternden Schilderungen von Erlebnissen und Reflexionen der Kinderpsychologin sind an manchen Stellen des Buches schwer zu ertragen: Fehlendes Wasser, unzureichende sanitäre Einrichtungen und das Fehlen jeglicher Privatsphäre und Sicherheit. Es sind Berichte über Krankheiten, Depressionen und zunehmende Gewalt unter den Insassen aufgrund der extremen Überfüllung und Perspektivlosigkeit. „Keiner, der in Moria gewesen ist, geht von dort fort, ohne davon geprägt zu sein. Weder Menschen auf der Flucht noch Helfer. Obwohl ich nach Hause gekommen war, und das normale Leben mit Arbeit und Familie wieder aufgenommen hatte, war es unmöglich, den Gedanken an diejenigen, denen ich begegnet war, abzuschütteln“, schreibt Brubakk.
Abschließend werden die Ereignisse nach dem verheerenden Brand im September 2020, der das Lager weitgehend zerstörte, beschrieben. Die europäische Politik reagierte darauf, indem neue, streng überwachte Lager errichtet wurden und werden, die eher an Gefängnisse erinnern, um weitere Flüchtlingsbewegungen zu verhindern.
INSIDE MORIA beschreibt die moralischen und humanitären Versäumnisse der europäischen Politik und vor allem auch die menschlichen Schicksale dahinter. Die Konsequenzen von Krieg und Weltpolitik sind in Lesbos gestrandet. Sie sind aber bezeichnend für das Leid jedweder Kriege auf der Welt, vor dem wir die Augen nicht verschließen dürfen und vor allem angesichts dessen wir alle aufgerufen sind, uns an die Grundprinzipien von Humanität und Gerechtigkeit zu erinnern.
Inside Moria – Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit ist beim westend Verlag erschienen.
Über den Autor
Evelyn Ritt war von 2003 bis 2023 als Programmkoordinatorin und Redakteurin beim Freien Radio Salzkammergut tätig, hat bis November 2023 die Ausbildung "Traumapädagogik und Traumaspezifische Fachberatung" absolviert und ist jetzt als Autorin, Journalistin und Künstlerin am Sprung in die Selbstständigkeit.