Man muss es Oberst Markus Reisner (Anm. d. Red. Österreichisches Bundesheer) hoch anrechnen, dass er die militärische Lage in der Ukraine realistisch einschätzt. Umso erschreckender sind die, die Reisner „Kriegsdienstverweigerer“ nennt und mit denen er jene meint, die militärische Ideen entwickeln, von denen sie keine Ahnung haben.
Wenn Reisner über die politischen und geopolitischen Zusammenhänge spricht, tönt aus ihm die Stimme der NATO. Dieser Kritikpunkt ändert aber nichts an der fachlichen Expertise Reisners als erfahrener Soldat mit zahlreichen Auslandseinsätzen.
Der Feind ist (nicht) ständig betrunken
Als Oberst und Vorgesetzter sieht sich Reisner in der Pflicht, den Soldaten, die ihm folgen, eine realistische Einschätzung zu geben. Es sei unverantwortlich, seinen Leuten zu erzählen, das Material des Gegners sei schlecht, die Moral unterirdisch und ohnehin seien die Soldaten auf der anderen Seite ständig betrunken. So könne man zwar Selbstsicherheit erzeugen, doch wenn durch diese vermittelte Fehleinschätzung am Ende Teile der eigenen Truppe tot sind, war die Vorbereitung offenkundig suboptimal.
Nüchterne Analysen
Dafür steht Reisner: Für eine unverblümte Einordnung der Situation. Über die Ukraine sagte er in einem Interview:
„Der Westen ist darauf nicht vorbereitet, weil der Westen sich seit 20 Monaten die Situation schönredet, und weil er meint, die Ukraine ist in der Lage, mit der Moral diesen russischen Bären zu besiegen. Das funktioniert so nicht. Aus meiner Sicht gibt es zwei Möglichkeiten. Die eine ist, All-in zu gehen. Da müssten aber jede Woche vier bis fünf beladene Militärzüge in die Ukraine fahren. Das andere ist, selbstkritisch einzugestehen, dass es nicht möglich ist. Dann muss man das aber den Ukrainern sagen. Man muss dann möglicherweise mit Verhandlungen beginnen, aber mit dem Eingeständnis, dass die Ukraine als Staat so nicht mehr existieren wird, weil Russland sie zerstören wird.“
Reisner macht das an unterschiedlichen Punkten fest:
- So sieht er die Lieferungen von Material an die Ukraine kritisch. Sie erhalte gerade so viel, um weiterkämpfen zu können, aber zu wenig, um entscheidende Vorteile zu erzielen.
- Der geopolitische und auch öffentlich wahrnehmbare Schwerpunkt verlagere sich zunehmend. Allein durch den Krieg im Gaza-Streifen hätten sich die Prioritäten verschoben, dadurch würde die Ukraine an Aufmerksamkeit verlieren.
- Das „gläserne Gefechtsfeld“ verunmögliche es beiden Seiten des Krieges, den Gegner zu überraschen. Dadurch sei eine Pattsituation entstanden, die zur Stagnation der Lage führe und so das qualvolle Sterben auf beiden Seiten in die Länge zöge.
Mit dem „gläsernen Gefechtsfeld“ meint Reisner unter anderem den Einsatz von Drohnen, die in erster Linie dem Ausspähen des Feindes dienen. Diese Drohnen arbeiten äußerst präzise und lassen den im Krieg so wichtigen Überraschungsmoment in weite Ferne rücken. Doch während es in diesem Bereich ein Patt gibt, stellt sich die Gesamtsituation anders dar.
Ungleichgewichte
Es sind die „Kriegsdienstverweigerer“ wie Anton Hofreiter (der jedoch wegen eines zu kurzen Beines ausgemustert wurde, um der Wahrheit die Ehre zu geben), über die Reisner sich ärgert. Sie haben keine militärische Ausbildung, demzufolge keine Erfahrung, maßen sich aber an, darüber zu sinnieren, wie es an der Front zu laufen hat. Und sie reden sich die Lage schön. Das hat die tödlichen Folgen, von denen Reisner sprach, als er sagte, man müsse seiner Truppe eine realistische Einschätzung erlauben. Doch genau das tut die Europäische Union nicht:
„Ursprünglich wollte die Europäische Union der Ukraine bis März eine Million Artilleriegranaten liefern. Nun wird es nur die Hälfte sein, das Datum für die Million wurde nach hinten gesetzt. An der Front macht sich das jetzt gerade massiv bemerkbar. Für die ukrainischen Truppen wird der Munitionshunger mehr und mehr zum größten Problem. Denn die Russen haben im vergangenen Jahr massiv Munition produziert, vermutlich zwei Millionen Artilleriegranaten. Dazu kommen noch eine Million Artilleriegranaten aus Nordkorea. Nach meinen Informationen kommen auf 2000 ukrainische Granaten derzeit im Schnitt 10.000 russische. Die Ukrainer versuchen, diesen Mangel mit dem Einsatz von First-Person-View-Drohnen wettzumachen.“
Bei den von Reisner angesprochenen First-Person-View-Drohnen handelt es sich um Drohnen, die eine Reichweite von einen bis zwei Kilometern haben. Ihr Nutzen ist also mehr als übersichtlich.
Der politische Krieg
Was Oberst Reisner – freiwillig oder unfreiwillig – deutlich macht, ist, dass der Ukraine-Krieg kein in erster Linie militärisch geplanter und durchgeführter ist. Man kann sich vortrefflich darüber streiten, wie lange der Krieg als solcher in Planung war, allerdings nur aus politischer Sicht. Die militärischen Unwägbarkeiten und Überraschungen spielen bei der praktischen Fortführung dieses Krieges faktisch keine Rolle. Im Gegenteil, es macht eher den Eindruck, dass das übergeordnete Kriegsziel der Beendigung der bewaffneten Auseinandersetzung entweder nie vorhanden war oder inzwischen abhandengekommen ist.
Nun könnte man einwenden, dass es für die NATO und die Europäische Union spricht, dass sie nicht „All-in“ gehen, die Ukraine also nicht mit allen erdenklichen Waffensystemen ausstatten, da diese die Gefahr eines großen und heißen Krieges erhöhen würde. Doch so einfach ist das nicht.
Denn erstens entspricht die Ausstattung des Westens mit den militärisch erforderlichen Systemen nicht dem Bedarf der Ukraine. Es ist schlicht zu wenig da, und das, was es gibt, wird in die unterschiedlichen Krisenherde gebracht. Und zweitens kann man davon ausgehen, dass ein militärischer Sieg der Ukraine über Russland nie geplant war.
Vielmehr ging es von Beginn an darum, Russland militärisch und wirtschaftlich zu schwächen und das Land dazu zu zwingen, seinen Fokus auf den Krieg in der Ukraine zu richten, um es umfassend beschäftigen zu können. Eine Begleiterscheinung – und dieses könnte deutlich wichtiger sein als die Ukraine als solche – ist der Keil, der insbesondere zwischen Russland und Deutschland getrieben werden konnte.
Es ist seit Jahrzehnten bekannt, dass ein gutes Verhältnis von Russland und Deutschland nicht im Sinne der Vereinigten Staaten ist. Und selbst wenn man davon ausgehen möchte, dass nicht die USA für die Terroranschläge auf die Nordstream-Pipelines verantwortlich sind, bleibt unbestreitbar, dass die Vereinigten Staaten von den Sprengungen massiv profitieren konnten.
Kürzlich sagte einer der zahlreichen „Experten“, die seit dem 24. Februar 2022 wie Pilze aus dem Boden schießen, dass die Lieferung des Taurus-Systems den Krieg in der Ukraine sicher auch nicht entscheidend beeinflussen oder gar zum Ende beitragen könnte. Trotzdem sprach er sich vehement dafür aus, Taurus an die Ukraine zu liefern.
Wir sehen also: Hier spricht jemand, der politische Ziele verfolgt, keine militärischen. Denn militärisch ist dieser Krieg der Ukraine gegen Russland einfach nicht zu gewinnen. Wir sollten Leuten wie Oberst Markus Reisner besser zuhören.
Über den Autor
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen.