Editorial der Ausgabe Nr. 7 des Stichpunkt Magazins (Erscheinungstermin 11.9.2023)
Liebe Leserin, lieber Leser,
wie reagiert der Journalismus in Krisenzeiten?
In ungeahnter Schnelligkeit geriet die Sprache der Öffentlichkeit aus dem Ruder, Dinge wurden sagbar, die man für eigentlich undenkbar gehalten hatte. Der sogenannte Qualitätsjournalismus der Öffentlich-Rechtlichen entbarg einmal mehr (oder wieder einmal) seine Tendenz, als Steigbügelhalter für die Herrschenden zu fungieren. Erschreckend war zu sehen, wie der Journalismus nicht nur in die Pandemie-Panik verfiel und sie schürte, sondern endgültig alle selbstauferlegten Tugenden über Bord warf, als Russland die Ukraine angriff.
Die europäische Presse agierte simultan mit der Politik kriegstreiberisch, anstatt dem Autokraten Putin eine friedliche europäische Lösung, ein Gegenmodell auf Grundlage europäischer Werte zu präsentieren, das für Abrüstung und Frieden plädiert. Stattdessen kam es politisch, medial und intellektuell zu einer völligen Niederlegung des diplomatischen Prinzips, zu Praktiken des Wettrüstens, zur Etablierung einer breiten Kriegsrhetorik. Mittlerweile ist eine sukzessive Militarisierung der europäischen Gesellschaften in Gange. Deutschland lässt sich, wie im Taumel, in diesen eskalierenden Krieg hineinziehen. Das Aufgeben der österreichischen Neutralität scheint nur einen Steinwurf entfernt und die problematischen Aspekte der NATO werden in der öffentlichen Debatte weitgehend negiert. Geschichte, Kontextualisierung und große geopolitische Zusammenhänge (Stichwort: Stellvertreterkrieg) werden zur Nebensache.
Wer Täter und wer Opfer ist, meinte ein Gastkommentar in der NZZ vom 28.04.2022, sei zwar in Kriegen nicht immer eindeutig. Beim Ukraine-Krieg sei das aber ganz anders: „Putin-Russland“ sei der „Aggressor und Alleinschuldige“ meinten die Kommentatoren Klaus-Dieter Frankenberger und Eckhard Lübkemeier. “Hoch lebe die Komplexität” kann man da nur ausrufen. Die Historikerin Anne Morelli, die das Buch „Prinzipien der Kriegspropaganda“ schrieb, wird in der Gegenwart mit einem weiteren unrühmlichen Beispiel beschenkt. Statt Russlands Propaganda mit Werten der Aufklärung und des offenen Diskurses zu begegnen, antwortet man ebenfalls mit Propaganda und Diskursverengung. Dabei scheinen insbesondere Österreich und Deutschland eindeutiger als je tief in die geopolitischen Interessen der USA verstrickt, was verunmöglicht, als selbstbewusste Nationen auftreten zu können.
Wer aber glaubt, dass dieses Verhalten von Presse und Politik einzigartig ist, der muss sich nur vergangene Krisen ansehen und sich die größte Zäsur der letzten Jahrzehnte in Erinnerung rufen: Die Anschläge auf das World Trade Center vom 11.09.2001, also vor 22 Jahren. Seitdem haben sich die globale Sicherheitsarchitektur, aber auch die Diskurse darum völlig verändert und verschoben. Der viel zu früh verstorbene Roger Willemsen kritisierte und warnte in einem Interview von 2011 davor, Freiheitsrechte für die Sicherheit zu opfern. Er betonte, dass mit 9/11 auch bei uns das Gefühl fast zur moralischen Vorschrift geworden war.
Seine Worte mit Blick auf die journalistischen Kollegen lassen einen heute erschaudern:
„Man ist umgeben von Publizisten, medialen Vertretern, die bereit sind, in einer Notsituation Grundüberzeugungen des humanen Zusammenlebens, auch des demokratischen, zu veräußern. Das ist für mich ein bleibender Schrecken.“ 1
Roger Willemsen
Die Frage ist daher für uns als Magazin, wie sich der Journalismus, besonders im Gefüge Europas, selbstbestimmt gegen die undemokratische Aufrechterhaltung des permanenten Ausnahmezustands behaupten kann, um letztlich die Frage nach der Notwendigkeit kultureller, politischer und ökonomischer Autonomie neu zu stellen. Aber nicht im Sinne einer nationalen oder europäischen Abschottung, sondern im Sinne einer sich an die eigenen kulturellen Errungenschaften rückbesinnenden Offenheit.
Der Wunsch nach einem neuen, sich auf die Grundtugenden besinnenden Journalismus ist groß. Diesen jedoch in seiner Entstehung nachhaltig zu fördern, scheint für viele Menschen eine große Hürde zu sein. Für uns Medienschaffende ist es oftmals eine zwiespältige Situation, die hohen Zugriffszahlen auf kostenfrei verfügbare Inhalte zu sehen, jedoch gleichzeitig, trotz niederschwelliger Angebote, die recht zögerliche finanzielle Unterstützung seitens der Leser zu erleben. Daher unser Appell an Sie und Ihren Bekanntenkreis:
Nehmen Sie Ihre Verantwortung wahr und unterstützen Sie guten Journalismus, der seine Grundtugenden insbesondere in Notsituationen erhalten möchte, anstatt sie beim kleinsten Windhauch aufzugeben.
Thomas Stimmel & Jan David Zimmermann
Die neue Ausgabe des Stichpunkt Magazins ist ab dem 11.09.2023 im Handel erhältlich.
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- Roger Willemsen in der „Kulturzeit“ vom 08.09.2011, https://www.youtube.com/watch?v=RQ1WF40LSOY , ca. ab Minute 05:34, abgerufen am 05.08.2023.[↩]