Die Anzahl essgestörter Patientinnen und Patienten steigt seit Jahren. Soziale Ansteckung in Internet ist dabei ein nicht zu unterschätzender Faktor. Längst geht die Gefahr nicht mehr nur von obskuren Anorexie-Foren aus.
von Rhea Krčmářová
Eugenias Knie sind breiter als ihre Oberschenkel, ihre Ellbogen dicker als ihre Oberarme. Unter dem kurzen Top kann man jede einzelne Rippe zählen, ihr Körper scheint nur aus Knochen und Sehnen zu bestehen, über denen sich fragile Haut spannt. Sowohl ihre knappen Outfits als auch ihre Posen auf Fotos und in Videos sind genau darauf ausgerichtet, dass man ihre extremste Schlankheit möglichst gut sehen kann. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – hat Influencerin Eugenia Cooney Millionen Follower. Allein auf Instagram folgen der 29-jährigen Amerikanerin über 700.000 Menschen, auf Tiktok 2,7 Millionen, in diversen Reddit-Foren wird jeder ihrer Auftritte diskutiert und seziert.
Dass Cooney mit einer Essstörung kämpft, ist spätestens seit 2019 bekannt, als Youtube-Stars rund um Jaclyn Glenn aus lauter Sorgen um ihre Gesundheit versuchten, ihre Freundin Eugenia in eine psychiatrische Klinik einzuweisen. Cooney ließ sich nach 72 Stunden aus der Klinik entlassen und scheint seitdem nicht nur jegliche Hilfe zu verweigern, sondern auch zu leugnen, dass sie überhaupt ein Problem hat. Ihre Follower teilen sich dementsprechend auch in zwei Lager auf: diejenigen, die sich um sie Sorgen machen, sie anflehen, sich doch bitte schleunigst in Therapie zu begeben, und Cooney teils in recht drastischen Worten einen frühen Tod prophezeien. Und diejenigen, für die Eugenia „thinspo“ [Abkürzung für „thinspiration“, Anm. d.R.] ist, also ein Vorbild für das eigene Hungern bis zur Essstörung. Kommentare wie „I want to be just like you“ finden sich unter jedem von Eugenias Postings. Diese Fan-Aussagen beweisen, was Expertinnen und Experten seit Jahren wissen: Gerade bei Essstörungen ist soziale Ansteckung nicht der einzige, aber ein wichtiger Faktor. Das gefährliche daran: Unter den psychischen Erkrankungen haben Essstörungen (vor allem Anorexie) die höchste Sterblichkeitsrate, und die Zahl der Betroffenen steigt von Jahr zu Jahr.
Das Feiern von Essstörungen als „Lifestyle“ begann Anfang/Mitte der Nuller-Jahre, als erste Anorexie und Bulimie verherrlichende Webseiten im noch recht neuen Worldwide Web aufpoppten. Schnell fanden sich auf diesen Seiten und Foren Menschen – meist weiblich und jung – die (noch) nicht bereit waren, sich ihrer Essstörung zu stellen, sich das Ausmaß ihres Problems einzugestehen. Sie fanden Gleichgesinnte, die sie in ihrem eigenen Hungern oder sich Übergeben unterstützen. Spornten einander mit „Thinspo“, also superschlanken Vorbildern an. Tauschten Tipps und „Pro-Ana“/„Pro-Mia“-Regeln und Gebote aus [Pro Ana= Pro-Anorexie, Pro-Mia= Pro-Bulimie, Anm. d.R.]. Mit beinahe religiösem Eifer schwärmten sie einander vom Schlanksein vor, von der „Reinheit“ des Knochig-Seins, von der Befreiung vom verhassten, gefürchteten Fett. Von diesen frühen Webseiten sickerten die Essstörungs-Inhalte dann auf die Mikroblogging-Seite Tumblr und von da weiter zu Instagram, TikTok und anderen Seiten. Zwar versuchen die Betreiber dieser Plattformen seit einigen Jahren, die Verbreitung von essstörungsförderndem Content zumindest halbherzig zu verhindern (unter anderem auch durch den Bann von Pro-Ana und Pro-Mia Hashtags), aber wirklich erfolgreich sind sie nicht, zudem die soziale Ansteckung durch essgestörte Influencer inzwischen viele neue Formen gefunden hat. Extreme gibt es so auch am anderen Ende der Gewichtsskala. In mit „Mukbang“ betitelten Videos stopfen junge Menschen von schlank bis sehr hochgewichtig abertausende Kalorien an zumeist Fastfood in sich hinein. Dieser südkoreanische Trend begann an sich als harmloses Teilen von Essenvideos, gedacht für einsame Menschen, die keine Lust hatten, alleine zu essen. Bald entwickelten sich diese Videos zu einer Zurschaustellung von Exzess, zu Kalorienorgien, die die Gesundheit der Internet-Persönlichkeiten bedrohen. US-YouTuber Nikocado Avocado, der vielleicht bekannteste „Mukbanger“, teilt stolz Videos mit seinen 3,5 Millionen Abonnenten, in denen der einstmals sehr schlanke Entertainer 10.000 Kalorien an Chips verdrückt.
Aus Südkorea kommt auch der K-Pop-Trend, bei dem es längst nicht mehr nur um Musik und Tanz geht. Stars und angehende Sternchen teilen alle Details ihres Lifestyles mit ihren (meist jungen) Fans auf der ganzen Welt, inklusive ihrer Essens- und Workoutpläne, die von den Anhängerinnen und Anhängern detailgetreu kopiert werden. Die K-Pop-Sternchen ernähren sich wie von gekochten Süßkartoffeln ohne alles, einer Handvoll Kimbap-Röllchen und mit Glück einem kleinen Stück Hühnerbrust zu Mittag. Dass die extrem schlanken Berühmtheiten oft nur wenige hundert Kalorien zu sich nehmen und „einseitig“ noch eines der freundlicheren Wörter ist, mit denen man diese Diät bezeichnen kann, stört die Teens und Twens, die ihren Idolen nacheifern, nicht.
„What I eat in a day”-Videos beschränken sich aber nicht auf die K-Pop-Szene. Instagram und Tiktok sind voll von (Möchtegern-)Berühmtheiten, die Fotos ihrer (oft spärlichen) Mahlzeiten mit dem Publikum teilen, sowie Abnehmtipps und Workout-Regeln posten. Inspiriert von ihren Vorbildern, posten weltweit unzählige (meist junge) Menschen Fotos von ihren Kasteiungsversuchen, von ihren Bemühungen, ihre meist normal- oder sogar untergewichtigen Körper noch zu verschmälern. Dazwischen finden sich zumindest auch „What I eat in a day”-Videos von Menschen, die versuchen, ihre Essstörung zu überwinden, und mit „normalen“ Mahlzeiten anderen Mut machen möchten, es ihnen nachzumachen.
Aber nicht nur „klassische“ Bulimie, Anorexie oder Binge Eating [Binge Eating meint die psychische Erkrankung unkontrollierter Essanfälle, Anm. d.R.] werden durch Inhalte im Internet gefördert. Auch Orthorexie – also der Drang, möglichst „gesund“ zu essen, erhält durch diverse InfluencerInnen massiven Auftrieb. Wobei nicht einmal klar ist, was „gesund“ essen überhaupt sein soll. Wellness-Gurus propagieren extreme und sehr widersprüchliche Vorstellungen von idealer Ernährung. Manche schwören auf eine Diät, die nur aus Fleisch (und eventuell Fisch und Eiern) besteht, andere verschreiben sich ausschließlich Früchten und Gemüse, möglichst ungekocht. Nun mag es sein, dass bei gewissen Krankheiten (z.B. Immunerkrankungen) eine solche extreme Ernährung einzelnen Patienten zumindest kurzfristig Erleichterung verschaffen mag. Ob sich die Carnivoren-, Paleo-, oder „raw vegan“-Diäten aber für den Großteil aller Menschen eignet, darf bezweifelt werden.
Dass diese Ernährungsweisen zu einer Art Kult werden können, merkt man spätestes, wenn Influencer von ihrer extremen Diät abweichen – selbst wenn sie ihre Ernährung umstellen, weil ihre Gesundheit Schaden erlitten hat. Ex-Veganer ernten Shitstorms von epischen Ausmaßen, wenn sie beginnen, wieder Fleisch oder auch nur Milch und Eier zu konsumieren.
Die Motivation mancher Online-Berühmtheiten, ihre Ernährung mit dem Internet zu teilen, mag in manchen Fällen ehrlich gemeinter Hilfsbereitschaft entstammen. Sehr oft steckt aber auch finanzielles Interesse dahinter. Influencer befriedigen ihre Werbekunden, verkaufen Bücher, Onlinekurse und oft auch eigene Nahrungsmittelprodukte.
In den letzten Jahren nutzen zunehmend Experten soziale Medien, um auf die Gefahr dieser toxischen Botschaften aufmerksam zu machen. Ärzte und Ernährungswissenschaftler wie „Dr. Idz“ Idrees Mughal oder Dr. Joshua Wolrich versuchen, der absurden Angstmache a la „Obst verursacht Diabetes“ oder „Spinat zerstört deine Knie“ mit wissenschaftlich fundierten Kurzvideos entgegenzuarbeiten. Diätologin Abbey Sharpe (die selbst früher mit einer Essstörung kämpfte) analysiert und kritisiert „What I eat in a day“-Videos, auch in der Hoffnung, psychisch erkrankten Menschen neue Perspektiven zu bieten. Das versuchen auch (ehemalig) von Essstörungen Betroffene, die ihre Heilung und ihre Kämpfe mit dem Internet teilen, um so anderen diesen Leidensweg zu ersparen.