Noch irgendwer ohne Diagnose? Wer überhaupt ist noch normal? Pharmaindustrie und Psychiatrie sorgen jedenfalls dafür, dass jeder, der nicht oder nicht permanent konform ist, pathologisiert wird. Für alle, die nicht in die Verhaltens-Schablonen passen, findet sich stets eine Diagnose, die wie angegossen passt. Und dann folgt das Vollprogramm: medikamentieren und therapieren, bis zum Exzess. Unterstützt wird diese unheilvolle Entwicklung von den Medien, die alle paar Tage ein neues Syndrom hypen. Toxisch und narzisstisch ist zig Berichten zufolge ohnehin gefühlt mindestens jeder Zweite, den wir kennen.
Inzwischen hat sich in der Gesellschaft ein regelrechtes Faible dafür herausgebildet, andere zu pathologisieren. Gerade dann, wenn einem das, was der andere denkt oder tut, nicht in den Kram passt, ist man schnell dabei, ihm eine psychiatrische Erkrankung zu unterstellen. Man fühlt sich sowieso immer öfter gestört – dass sich eine allgemeine Empfindlichkeit ausgebreitet hat, dürfte niemandem entgangen sein. Das scheint allerdings nicht nur ansteckend zu sein, sondern hat auch fatale Folgen. Der Begriff der Normalität wird dadurch immer weiter verengt, und was gestern noch toleriert wurde, fällt morgen schon in den Bereich des mindestens Verdächtigen.
Nicht unerwähnt bleiben soll die Rolle, die das DSM dabei spielt, also das dominierende psychiatrische Klassifikationssystem, das im Jahr 2013 in seiner fünften Fassung erschien, die zuletzt 2022 überarbeitet wurde. Das aus den USA stammende Standardwerk beinhaltet 297 psychische Erkrankungen, festgelegt von 158 Experten. Nicht wenige aus dem Gremium stehen auf den Gehaltslisten der Pharmaindustrie. Dennoch: Innerhalb der Branche gelten die aufgestellten Regularien kaum minder als die Bibel für Christen.
Sollte man sich tatsächlich von 158 Menschen, egal ob sie korrupt oder integer sind, diktieren lassen, was Normalität ist und was jenseits von ihr liegt? Wenn ja, dann führt das zu der Frage, warum wir dazu bereit sind. Gewiss, es gibt ernstzunehmende Befunde, da braucht es Fachleute und adäquate Behandlung; niemand will die Nöte von Betroffenen negieren. Doch sollte nachdenklich stimmen, dass bei Erscheinen des ersten DSM im Jahre 1952 lediglich 106 psychische Erkrankungen gelistet waren.
Was geschähe eigentlich, wenn man darauf verzichten würde, Diagnosen zur Erklärung heranzuziehen? Wenn beispielsweise als „unbequem“ titulierte Kinder nicht sofort den ADHS-Stempel bekommen würden? Da eine Diagnose nicht dazu führt, den anderen besser zu verstehen, würde man durch deren Wegfall endlich Barrieren abbauen. Jedes Verhalten hat schließlich seinen Grund und verdient eine nähere Betrachtung. Ist ein Kind wütend oder traurig, schlägt es um sich oder andere, dann zeigt es damit seine Reaktion auf Erlebtes. Anders als bei Erwachsenen funktioniert ihr natürliches System, auf Frustrationen unmittelbar zu antworten. Dass die Trennung der Eltern Kinder aus der Fassung bringt, dass sie gegen Leistungsdruck und mangelnde Bewegungsmöglichkeiten rebellieren, dass sie auf Lieblosigkeit mit Gewalt oder Rückzug antworten, ist nichts weiter als ein adäquates, ein natürliches Verhalten auf Missstände. Wer wollte es ihnen verübeln?
Ein aggressives Kind ist kein „schwieriges“, es ist ein verletztes Kind. Fragen wir also nicht nach der nächsten Diagnose, sondern machen wir uns die Mühe, nach den Ursachen zu forschen. Dabei sollten wir allerdings auf alles gefasst sein, vor allem darauf, dass auch wir selbst in den Blick geraten. Denn: Mit ihrem Verhalten erzählen Kinder nicht nur etwas über sich – sondern auch über uns. Und bringen uns so mit unseren eigenen Wunden in Kontakt. Der Schweizer Psychiater C.G. Jung sagte einmal: „Wenn es etwas gibt, das wir an unseren Kindern ändern wollen, sollten wir zuerst untersuchen und herausfinden, ob es nicht etwas ist, was wir besser an uns ändern sollten.“ Vielleicht ist es diese Erkenntnis, vor der „die Großen“ Angst haben. Vor der letztlich alle Angst haben, die dazu tendieren, andere zu pathologisieren.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.