Die Vorstellung, deutsche Politik sei “links”, “links-grün-versifft” oder gar “sozialistisch”, hält sich hartnäckig und führt zu einem sprachlichen und inhaltlichen Verlust linker Ideen.
Eine Betrachtung von Tom J. Wellbrock
Olaf Scholz, Robert Habeck, Ricarda Lang und all die anderen haben keine andere Wahl. Sie müssen sich als links bezeichnen, mindestens aber als Politiker der Mitte, zur Sicherheit auch gern als links von der Mitte. Das hat mit politischen Inhalten zunächst einmal nichts zu tun. Sie müssen sich so positionieren, weil ihr Feind rechts ist, und rechts ist in der neuen deutschen Politikersprache in der Regel auch gleich rechtsradikal oder rechtsextrem.
Da die Grautöne begraben wurden und die aktuelle Politik in den meisten Fällen schlicht intellektuell überfordert ist, wird ein kategorisches Bild von Politikverständnis gepflegt. Links ist alles, was sich von der AfD (oder neuerdings auch dem BSW) distanziert, rechts trifft sich der vermeintlich neue Faschismus, den es von linker Seite zu bekämpfen gilt. Ein solches Weltbild ist hohl und nicht durch Fakten zu untermauern, aber es funktioniert in der Alltagssprache recht gut. Und wenn wir von Alltagssprache reden, ist eine Ausdrucksform gemeint, die sich an oberflächlichen Plattitüden orientiert, auswendig gelernt und ohne intellektuelle Unterfütterung.
Was am Krieg ist links?
Wenn Boris Reitschuster, der bekanntlich politisch rechts steht, von links-grün versifften Politikern spricht, macht er es sich leicht. Als politischer Rechtsausleger ist seine Haltung recht klar und leicht zu identifizieren. Das ist nicht als Kritik zu verstehen, Leute, die sich politisch eindeutig einordnen und von außen entsprechend zuordnen lassen, sind zu seltenen Exemplaren geworden. Reitschuster ist ein solches Exemplar. Er ist auch ein Beispiel dafür, wie leicht die Zustimmung anderer als grundsätzliche politische Haltung festgelegt wird. Drastischer ist der Umgang mit der AfD. Sahra Wagenknecht hat es vor einiger Zeit auf den Punkt gebracht, als sie sagte, dass sie der AfD nicht widersprechen könne, wenn diese behaupte, der Himmel sei blau.
Jene AfD hat eine ziemlich genaue Idee davon, wie am besten mit dem aktuellen Ukraine-Krieg umzugehen sei. Dieser müsse so schnell wie möglich beendet werden, durch einen Waffenstillstand, Verhandlungen und letztlich einer Einigung zwischen den Kriegsparteien (die ja weit über Russland und die Ukraine hinausgehen). Boris Reitschuster sieht das anders, wobei nicht bekannt ist, was genau er in Russland zur Zeit seiner Arbeit dort erlebt hat, es scheint prägend gewesen zu sein. Wie auch immer, beide, AfD und Reitschuster, stehen auf dem politischen Spielfeld rechts, die Einordnung ist also nicht so einfach.
Ob Reitschuster es will oder nicht, in Sachen Ukraine-Krieg ist er voll auf Regierungslinie, und ob die AfD es will oder nicht, mit ihrer Haltung zu Beendigung des Krieges vertritt sie eher linke Ideen. Man könnte nun sagen, das sei doch der beste Beweis dafür, dass die Attribute links und rechts aus der Zeit gefallen seien, heute funktioniere so eine Zuordnung nicht mehr. Doch das wäre falsch, denn grundsätzlich linke und rechte Ideen gibt es sehr wohl noch und das wird auch so bleiben. Weil es zwischen rechten und linken Positionen zwar grundlegende Unterschiede, aber auch punktuelle Übereinstimmungen gibt. Der Wunsch nach Frieden ist in linken wie in rechten Kreisen vorhanden, doch die Kriegstreiberei ist eher auf der rechten Seite zu finden. Insofern muss man als friedliebender Mensch jedem Rechtspositionierten dankbar sein, wenn er für das Ende eines Krieges eintritt.
Nicht im Ansatz links ist die Politik der Bundesregierung. Die neoliberale FDP ist in dieser Konstellation noch am einfachsten einzuordnen. SPD und Grüne jedoch sind überdimensionierte Mogelpackungen. Denn beide sehen sich in einer linken Tradition, die SPD als Arbeiterpartei, die Grünen als Friedens- und Umweltpartei. Den Stempel des Linksseins benötigen sie, wie oben erwähnt, um sich von rechts abgrenzen zu müssen, doch ihre Politik ist zutiefst rechts und darüber hinaus frei von jeglicher Friedfertigkeit.
Rainer Mausfelds Links-Definition
Bei der Frage, was linkes Denken ausmacht, ist es sinnlos, sich auf die Oberflächlichkeiten minderbemittelter Politiker zu verlassen, man landet nur in leeren Worthülsen zu Propagandazwecken. Seriöser sind die Ausführungen Rainer Mausfelds, der in einem Interview mit den NachDenkSeiten sagte:
“Links steht vielmehr für die normativen moralischen und politischen Leitvorstellungen, die über den Menschen und über die Möglichkeiten seiner gesellschaftlichen Organisation in einem langen und mühsamen historischen Prozess gewonnen wurden und die in der Aufklärung besonders prägnant formuliert wurden. Den Kern dieser Leitvorstellungen bildet ein universeller Humanismus, also die Anerkennung einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen.”
Schon an diesem Punkt wird klar, dass die derzeitige deutsche Regierungspolitik nicht links ist, denn die “Anerkennung einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen” wird zwar nach außen laut und deutlich kommuniziert. Doch die Praxis beweist das Gegenteil, wir erleben die machtvolle Gewalt der Meinungsdiktatur einer Minderheit, unter der die Mehrheit ideologisch und wirtschaftlich zu leiden hat.
Auch der folgende Absatz Mausfelds betrifft die Regierungsparteien, wenngleich diese ihn gern nutzen, um sich als schützende Instanz zu inszenieren:
“Bereits aus dieser Leitvorstellung ergeben sich schwerwiegende und weitreichende Folgerungen. Beispielsweise schließt ein universeller Humanismus Positionen aus, die auf der Überzeugung einer prinzipiellen Vorrangstellung der eigenen biologischen, sozialen, kulturellen, religiösen oder nationalen Gruppe beruhen; er schließt also Rassismus, Chauvinismus, Nationalismus oder Exzeptionalismus aus. Zudem beinhaltet er, dass alle Machtstrukturen ihre Existenzberechtigung nachzuweisen und sich der Öffentlichkeit gegenüber zu rechtfertigen haben, sonst sind sie illegitim und somit zu beseitigen.“
In der deutschen Politiklandschaft hat sich eine perfide Erzählung den Weg gebahnt, nach der das Ansprechen von Problemen mit Migranten als Rassismus und Rechtsextremismus definiert wird. Damit werden die eigenen Verfehlungen in der Migrationspolitik faktisch als legitim dargestellt. Man dürfte, so die edle Argumentation, zwar auf Probleme und Fehler der Politik hinweisen. Doch die geeignete Form, dies zu tun, ist offenbar noch nicht gefunden worden, denn wer sich kritisch äußert, ist nur Momente später ein rechtsextremistischer Rassist.
Diese plumpe und dümmliche Form der Diffamierung kritischer Köpfe erzeugt nicht nur ein gefährlich einseitiges und (vor)verurteilendes Klima in der Debattenkultur, sie dominiert außerdem die gesellschaftliche Stimmung im Land so sehr, dass der eigene politische Chauvinismus und Exzeptionalismus in den Hintergrund gerückt wird. Insbesondere der deutsche Exzeptionalismus hat speziell unter grüner Beteiligung gravierende Ausmaße angenommen. Ob beim Klimaschutz, dem Umgang mit der breiten Palette der LGBTQ-Ideologie oder der sogenannten “westlichen Werte” (wahlweise auch “regelbasierte Werte”), deutsche Politiker nehmen für sich eine global dominierende Rolle ein und mischen bei jedem Versuch des Regime Changes in allen Ländern mit, die sich dem nicht zu erwehren wissen.
Das derzeit extremste Beispiel ist der Umgang mit der Ukraine. Von der ignorierten und ausradierten Vorgeschichte abgesehen, die man braucht, um die Entwicklung zum Krieg hin geopolitisch zu bewerten, fällt die skrupellose Ignoranz gegenüber der deutschen (und letztlich auch ukrainischen und russischen) Bevölkerung auf, die hier an den Tag gelegt wird. Annalena Baerbock, die deutsche Außenministerin, hat in ihrer unprofessionellen und intellektuell begrenzten Art deutlich gemacht, was sie von den Ängsten und Wünschen der Deutschen hält, wenn es um diesen Krieg geht. Es sei ihr egal, was ihre deutschen Wähler denken, hatte sie in der Anfangsphase des Ukraine-Krieges gesagt, die Ukraine werde weiter unterstützt. Kinder und Betrunkene, so heißt es, sagen die Wahrheit, und bei Baerbock muss man sich lediglich fragen, welcher Gruppe man sie zuordnen will. In jedem Fall sagte sie damals tatsächlich die Wahrheit, die Wahrheit einer Elitenkriegerin.
Rainer Mausfeld folgend dürfte eine solche Praxis überhaupt nicht sein, zumindest dann nicht, wenn die herrschende Politik wirklich links wäre. Denn die in Deutschland Mächtigen weisen ihre Existenzberechtigung weder nach noch rechtfertigen sie sich dafür, im Gegenteil, sie praktizieren eine Politik, die die Bevölkerung vollständig ausklammert, mehr noch: sie gefährdet und ihre wirtschaftliche Lage kontinuierlich verschlechtert. Womit wir zum nächsten Zitat Rainer Mausfelds kommen:
“Aus dem universellen Humanismus ergibt sich also das spezifische Leitideal einer radikal-demokratischen Form einer Gesellschaft, in der ein jeder einen angemessenen Anteil an allen Entscheidungen hat, die die eigene ökonomische und gesellschaftliche Situation betreffen; er schließt also Gesellschaftsformen aus, die auf einer Elitenherrschaft oder auf einem Führerprinzip beruhen.”
Eindeutiger kann man das fehlende linke Verständnis deutscher Politik nicht benennen. In der deutschen Regierungslinie gibt es keinerlei Anteil an den politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen, die Mächtigen in Berlin sind eine zu Fleisch gewordene Elitenherrschaft, die die Bevölkerung sehenden Auges in die Katastrophe treibt.
Rechts oder links: Ist doch egal, hat sich überlebt!
Im NachDenkSeiten-Interview äußert sich Mausfeld auch zu der These, die Einordnung in “rechts” und “links” habe sich überholt, sie sei nicht mehr zeitgemäß. Diese Vorstellung ist weit verbreitet, und in Anbetracht der Schwierigkeiten, im Alltag eine klare Unterscheidung dieser beiden politischen Richtungen vorzunehmen, ist es bequem und praktisch, auf solche Titulierungen zu verzichten. Dazu Mausfeld:
“Da diese Leitideale gewaltige politische Konsequenzen haben, wurden sie seit je auf das schärfste bekämpft; historisch war das der Kern der sogenannten Gegenaufklärung, der es wesentlich um die Wahrung des jeweiligen Status quo ging. Die Behauptung, eine Links-Rechts-Unterscheidung hätte sich historisch überlebt, würde also letztlich beinhalten, dass sich die Leitideen einer prinzipiellen Gleichwertigkeit aller Menschen und einer ernsthaften demokratischen Gesellschaftsorganisation überholt hätten – eine These, die natürlich gerne von denen vertreten wird, deren Macht gerade auf rassistischen, chauvinistischen, nationalistischen oder exzeptionalistischen Ideologien basiert.”
Das öffentliche Verwischen einer Links-Rechts-Unterscheidung und die von allen möglichen Seiten zugerufene Aufforderung, auf sie zu verzichten, kommt auf der einen Seite von denen, die Rassismus, Chauvinismus und woken Nationalismus propagieren und praktizieren, also den Herrschenden. Sie kommt aber auch von überforderten Bürgern, die die Orientierung verloren haben, nicht selten auch das Interesse an politischen und gesellschaftlichen Aspekten.
Und es kommt etwas hinzu: Die bewusst erzeugte Orientierungslosigkeit auf der einen und die Vorgabe simpler und oberflächlicher Positionen auf der anderen Seite erzeugen Gefühle der Unsicherheit und der Angst. Dies, gepaart mit dem Druck, der auf allen lastet, die fürchten müssen, das Falsche zu sagen und dafür belangt zu werden, lässt nicht nur die angeblich linke Politik im Nebel der Ressentiments verschwinden, sondern erweist sich als eine Gesellschaftsform, die nicht einmal mehr als Demokratie bezeichnet werden kann.
Die Frage muss also letztlich nicht lauten, wer für rechte oder linke Politik steht, sondern wer für den Erhalt der Demokratie kämpft. Das können durchaus rechte wie auch linke Protagonisten sein, denn innerhalb einer Demokratie haben beide Positionierungen ihre Berechtigung. Aufhorchen sollte man, wenn eine Seite behauptet, die andere habe ihre Existenzberechtigung verloren, so wie es in Deutschland seit einiger Zeit passiert. Die Tatsache, dass diese totalitäre Einstellung von vermeintlich linker Seite aus kommt, entlarvt die Akteure als die wahren Demokratiefeinde, die sie betrügerisch auf der anderen Seite ihrer Überzeugungen suchen und finden.
Links und rechts sind keine Anachronismen, sie sind nicht bedeutungslos geworden, im Gegenteil, beide Pole gehören zu einer demokratischen Gesellschaft dazu, und auch wenn sie sich im Laufe der Zeit verändern und natürlichen Entwicklungsprozessen unterliegen, heißt das nicht, dass sie nicht mehr notwendig sind und ihre Sichtbarkeit nicht mehr wichtig wäre. Linke Politik kommt nicht aus einer Sitzordnung in der verfassungsgebenden französischen Nationalversammlung im Jahr 1789 heraus, die heute keine Rolle mehr spielt, linke Politik stellt die Gleichwertigkeit der Menschen in den Vordergrund, setzt sich für ein friedliches Zusammenleben der Völker ein und sorgt sich um sozialen Ausgleich und soziale Gerechtigkeit.
In der heute als links verkauften Politik spielen diese wichtigen Faktoren nur noch rhetorisch und in Sonntagsreden eine Rolle, sie werden nicht gelebt, sie werden nicht erkämpft und die politischen Entscheidungen werden fernab von ihnen getroffen. Das ist fatal und zutiefst destruktiv, es wird die Gesellschaft in eine dunkle Zeit stürzen, befeuert von korrupten Politikern und einer seit Jahrzehnten neoliberalen Ausrichtung des politischen Geschehens. Linke Politik, linke Überzeugungen und der Kampf für ur-linke Belange sind heute wichtiger denn je. Man sollte die linke Idee nicht für ein paar neoliberale Marktschreier wegwerfen, der Preis ist einfach zu hoch.
Dieser Artikel ist in der aktuellen Printausgabe Nr. 12 des Stichpunkt Magazins erschienen.
Über den Autor
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen.
Die einfachste Definition von rechts und links lautet: jeder ist für sich und seine Familie selbst verantwortlich und sorgt für sich und seine enge Gemeinschaft. Diejenigen, die dazu nicht in der Lage sind, werden von der Gemeinschaft getragen. Daraus lässt sich unschwer erkennen, dass es immer beides braucht, Politik sollte ein Austarieren sein und Übertreibungen vermeiden. Da aber durch den «Kampf gegen rechts» die Hälfte des Spektrums zur no-go-Area gemacht wurde passt hinten und vorne nichts mehr. Aus welchem Machtkalkül und von wem wurde «rechts» in allen Schattierungen komplett verleumdet?