In keiner einzigen Zeitung ist heute zu lesen, dass ich gestern, als der Abend in die Nacht glitt, mit einem Freund zusammensaß und über Vertrauliches sprach. Es war viel Nähe da und Verstehen. Ich fühlte mich aufgehoben. In keiner einzigen Zeitung ist heute zu lesen, was auch anderen gestern an Gutem widerfahren ist; die wohltuenden Begegnungen von Mensch zu Mensch. In keiner einzigen Zeitung ist heute zu lesen, wie gestern ein Vater seinem Kind Geborgenheit gab durch das Erzählen einer Gute-Nacht-Geschichte oder wie eine Tochter ihre todkranke Mutter zum Lachen brachte oder wie zunächst Fremde, die sich einsam fühlten, auf einer Parkbank ins Gespräch kamen und sich dadurch der Keim zu einer Freundschaft legte.
Es geschieht viel Gutes, über das in den Medien nicht berichtet wird. Kein Wunder, sehen sie doch ihre wesentliche Aufgabe darin, das darzustellen, zu was der Mensch an Bösem in der Lage ist. Krieg und Gewalt beherrschen die Nachrichten. Und doch beschäftigen sich die Medien mit dem Guten, und das tun sie, indem sie vorgeben, sie wüssten, wer die Guten sind. Aktuell sind es angeblich die, die Waffenlieferungen an die Ukraine befürworten und die alles daran setzen, das Klima retten zu wollen. Pazifisten werden diffamiert und wer das klimaideologische Konstrukt in Frage stellt, dem droht das gesellschaftliche Fegefeuer.
Allein: Wieso sollten die Medien Deutungshoheit haben über das Gute? Es lohnt, andere Definitionen heranzuziehen. Ein Blick in die Geschichte der Philosophie zeigt, seit je hat die großen Denker umgetrieben, was das Gute sei. Gemäß Aristoteles ist eine Person dann gut, wenn sie gute Charaktereigenschaften hat, die da wären: Tapferkeit, Großzügigkeit, Weisheit und Selbstbeherrschung. Immanuel Kant hat, quasi als Handlungsanleitung für den guten Menschen, den Kategorischen Imperativ verfasst. Im Wortlaut: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ Auch der englische Philosoph Jeremy Bentham hatte eine klare Vorstellung von einem guten Menschen. Ihm zufolge ist das eine Person, die so handelt, dass möglichst viel Freude und möglichst wenig Leid entsteht.
Nun wäre eine andere Frage, warum der Mensch unbedingt gut sein will. Handelt es sich um eine anthropologische Konstante? Vielleicht stimmt auch, dass er ohnehin „im Grunde gut“ ist. Diese These vertritt unter anderem der niederländische Historiker Rutger Bregman in seinem gleichnamigen Buch. Ihm zufolge würden Kriege, Krisen und Naturkatastrophen geradezu das Beste im Menschen hervorbringen. Bedeutet das also umgekehrt, dass wir all das Schreckliche brauchen, um uns als gut beweisen zu können? Anders gesagt, ist das Böse der Diener des Guten?
Da wir nicht in einem Grimmschen Märchen leben, ist es allerdings nicht immer eindeutig, was als böse und was als gut zu werten sei. Entsprechende Täuschungsmanöver gehören zu jeder Art von Propaganda. Marie von Ebner-Eschenbach sagte einst sehr treffend: „Es würde sehr wenig Bösesauf Erden getanwerden, wenn das Böseniemals im Namen des Guten getanwerden könnte.“
Soll ich das Gute tun – oder soll ich es nicht tun? Die Wahl zu haben, ist wesentlich. Wenn wir von Freiheit sprechen, dann ist Voraussetzung, dass es auch ein Böses gibt, für das ich mich entscheiden kann. Oder dem ich widerstehen kann.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.