Wer seinen inneren Frieden finden will, der hat die Qual der Wahl. Zig Coaches und Seminare weisen den Weg. Sie überbieten sich regelrecht darin, wie man gelassener werden kann. Mit Mantra und Meditation zur inneren Friedensquelle. Nichts dagegen. Noch mehr Krieg kann keiner gebrauchen. Auch nicht im Zwischenmenschlichen. Trotzdem ist niemand 24 Stunden am Tag ein erleuchteter Buddha. Der Mensch, mit dem man Bett und Wohnung teilt, kann einen ebenso in eine nicht unbeachtliche Raserei bringen wie Politiker mit ihren unnötigen Hitzetipps und wirren Heizungsgesetzen.
Wenn ich wütend bin, unterdrücke ich es nicht. Was eine gute Idee ist, denn wer sich seine Wut verkneift, wer ihr keinen Ausdruck gibt, der verneint sich selbst in diesem Moment. Man betrügt nicht nur sich, sondern auch die anderen. Man will die Zähne fletschen und flüchtet sich stattdessen in ein steifes Lächeln.
Wut ist ein berechtigtes Gefühl. Nur leider hat es keinen guten Ruf. Einzig wenn ich auf der Bühne stehe und einer Rolle gemäß einen Wutanfall hinlegen muss, gibt es tosenden Applaus. Ansonsten hält sich die Begeisterung sehr in Grenzen. Dabei täte not, Wut als einen lebendigen Teil von sich selbst zu akzeptieren. Oder anders gesagt: In einen Frieden kommen zu wollen ohne mit seiner Wut in Frieden zu kommen, erscheint mir nicht plausibel.
Schon früh haben die meisten gelernt, ihre Wut zu unterdrücken. Die Wut auf unsere Eltern, sei es, weil sie uns etwas verboten haben oder wir uns ungerecht behandelt fühlten, war meist eine verbotene Wut. Die Kindheitsforscherin Alice Miller beschreibt diesen frühkindlichen Mechanismus so: Wir haben früh gelernt, dass wir auf Verletzungen, die wir erlitten haben, nicht unserem inneren Erleben gemäß antworten durften. Wir durften nicht wütend sein, ohne elterliche Sanktionen befürchten zu müssen. Also haben wir unsere natürliche Reaktion unterdrückt. Das Leugnen unserer wahren Gefühle wurde uns regelrecht antrainiert. Die Lektion lautete: Wut ist gleich böse.
Dort aber, wo wir auf Schmerzen nicht mit Wut antworten durften, machten wir gleichzeitig die Erfahrung, dass wir mit unserem Leiden nicht anerkannt wurden, es wurde bagatellisiert. Wir fühlten uns nicht ernst genommen. Und „irgendwie falsch“. Das nagt natürlich am Selbstwertgefühl. Und kann sich irgendwann in psychosomatischen Krankheiten äußern.
Ohnehin und grundsätzlich: Wer seine Gefühle auf Dauer unterdrückt, tut sich selbst nichts Gutes. Das Immunsystem wird schwächer, man wird anfälliger für Infekte. Auch erhöhter Bluthochdruck, Herzerkrankungen, Haut- und Magenprobleme können die Folge sein.
Indem wir uns Wut abtrainieren, trainieren wir uns ein natürliches Abwehrsystem ab, das in manchen Situationen wichtig ist, um emotional stabil zu bleiben. Das auch ein Sensor ist für Ungerechtigkeiten, für das, was nicht stimmt in der Familie, in der Gesellschaft. Da ist ein Schmerz, der seinen Ausdruck braucht. Bei Traumata ist es oft heilsam, nicht nur die Traurigkeit, sondern auch die Wut über das Erlittene auszudrücken.
Mit Alice Millers Worten: „Es ist nicht das Trauma, das krank macht, sondern die unbewusste, verdrängte, hoffnungslose Verzweiflung darüber, dass man sich über das, was man erlitten hat, nicht äußern darf, dass man Gefühle von Wut, Zorn, Erniedrigung, Verzweiflung, Ohnmacht, Traurigkeit nicht zeigen darf und nicht erleben kann.“
Übrigens: Wer seine Wut zulassen kann, wird auch mit der Wut anderer besser zurechtkommen. Denn natürlich, Wut kann andere verletzen, kann Grenzen überschreiten. Und es ist an uns, herauszufinden, wie sie ihren berechtigten Ausdruck finden kann. In den meisten Fällen resultiert sie aus einer inneren Not. Verstehen wir das, ist das ein nicht unbeachtlicher Beitrag für mehr Empathie in der Gesellschaft. Dann werden die Fragen wichtig und die Vorwürfe verschwinden.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.