Wie viele der knapp 2,4 Milliarden Kinder weltweit sind gerade verzweifelt? Wie viele tragen Wut in sich und wie viele Traurigkeit? Wie viele wünschen sich, endlich gesehen, endlich verstanden zu werden? Wie viele sind überlastet, wie viele am Ende ihrer Kraft? Wie viele sind erkrankt, wie viele hungern? Wie viele haben Angst, getötet zu werden?
Zahlreiche Mütter und Väter, die im Gazastreifen leben, wissen nicht, ob sie selbst und noch wichtiger, ob ihre Kinder den nächsten Tag überleben werden. Die meisten schreiben die Namen ihrer Kinder auf deren Arme, damit man sie, sofern sie ermordet werden, identifizieren kann. Derzeit werden in der Region täglich um die 400 tote Kinder gezählt. Insgesamt bisher über 3200 Kinder seit der Gegenangriffe Israels als Antwort auf die Terroranschläge der Hamas.
Dazu kommt: über 5000 Kinder sind verletzt und nahezu alle sind im Gazastreifen Traumata ausgesetzt angesichts der Zerstörungs- und Bedrohungslage. Auch mangelt es an Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten. Die UNICEF fordert bereits seit Tagen den sofortigen Waffenstillstand – doch wer hört ihren Hilfeschrei?
Auch Bernie Sanders gehört zu denen, die weltweit anklagen. Als der US-Senator neulich bei Sandra Maischberger zu Gast war stellte er die berechtigte Frage: „Sind wir im Krieg gegen 5Jährige?“ Weiter muss gefragt werden, in welcher Welt wir eigentlich leben, da es nicht gelingt, die zu schützen, die schutzbedürftig sind.
Kindheit ist kein Kriegsgebiet.
Weg also mit all den Waffen, die auf Kinder gerichtet werden.
Auch hierzulande sind Kinder bedroht. In der Regel nicht mit Waffen, in der Regel nicht lebensgefährlich, aber doch. Ihr Leid muss ebenso benannt werden – es wäre unlauter, Leid gegeneinander auszuspielen zu wollen. Der Kindheitsforscher Michael Hüther kommt zu dem grundsätzlichen Befund: Noch nie – außerhalb von Kriegszeiten – ging es Kindern in Europa seelisch und emotional so schlecht wie heute. Jedes zweite Kind leidet an einer chronischen Krankheit, jedes vierte Kind braucht eine Therapie, 50 Prozent sind Scheidungskinder. Ein Drittel aller Kinder lebt in einer von Armut und Arbeitslosigkeit betroffenen Familie. Ein desaströser Befund. Aussicht auf Besserung gibt es kaum. Zumal für gerade diese unsichtbaren Narben, die da entstanden sind, oft der Blick fehlt.
Nicht zuletzt die Pandemie-Politik hat deutlich gezeigt, dass man sich für die Jüngsten einer Gesellschaft kaum interessiert. Während der Covid-19-Pandemie wurden ihre Bedürfnisse wenig bis gar nicht beachtet. Die Regierung zog ruckzuck eine milliardenschwere „Bazooka“ für die Wirtschaft aus dem Ärmel; wie man hingegen Kinder fördert und was ihnen guttut, stand nicht zur Debatte. Schulen und Kindergärten wurden geschlossen, und damit basta. Waren die Einrichtungen wieder geöffnet, drangsalierte man die Kinder mit allem, was das Corona-Regime aufgefahren hatte. Es gab Lehrer, die sehr deutlich machten, dass die Geimpften in der Klasse die erwünschteren waren; Ausgrenzung und Denunziation gehörte zum Alltag. Viele Kinder fühlten sich ohnmächtig, allein gelassen.
Kinder und Jugendliche kämpfen immer noch mit den Folgen. Wie stark die Spuren sind, die die Pandemie-Maßnahmen hinterließen, zeigt sich im Kinder- und Jugendreport der DAK, der die Neuerkrankungen von minderjährigen Versicherten wegen psychischer Probleme auswertet. Demnach wurden 54 Prozent mehr Essstörungen, 24 Prozent mehr Angststörungen, 23 Prozent mehr depressive Episoden im Jahr 2021 gegenüber 2019 diagnostiziert. Allerdings gab es diese Anstiege ausschließlich bei weiblichen Teenagern. Bei Jungen gingen die Neudiagnosen laut DAK-Report zurück.
Es wird oft gesagt, die Corona-Pandemie sei wie ein Brennglas, das auch auf ganz grundsätzliche, ungelöste Probleme in unserer Gesellschaft hinweist. Und so ist es gewiss kein Zufall, dass ausgerechnet Kinder und Jugendliche in der Pandemie zu selten gehört wurden. Es ist auch kein Zufall, dass ihr Wohlbefinden bei der Entwicklung der Maßnahmen zu selten berücksichtigt wurde.
Das Wohl von Kindern und Jugendlichen ist noch immer nicht der Maßstab für eine gute und nachhaltige Politik. Doch um die Politik spüren zu lassen, dass eine Gesellschaft darauf Wert legt, braucht es eine Gesellschaft, die das mit Nachdruck deutlich macht.
Kinder brauchen Erwachsene, die sich entschieden an ihre Seite stellen. Und das überall in der Welt. Sei es im Gazastreifen, in Israel, in Amerika, in Russland oder in Europa.
Also: Wer schützt die Kinder?
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.