Die deutsche Psychologin Esther Bockwyt wird urplötzlich zur Spiegel-Bestseller-Autorin. Fast scheint es daher, als habe sie mit ihrem neuerschienenen Buch „Woke: Psychologie eines Kulturkampfs“ absolut den Nerv der Zeit getroffen. Denn Bockwyt beschreibt hierin anschaulich und eindringlich, was offenbar viele Menschen unterbewusst triggert: Die Wokeness-Kultur als schleichendes Gift, dass sich nahezu unbemerkt in der Gesellschaft breit gemacht hat. Unter dem Deckmantel größtmöglicher Toleranz scheint es, als durchdringe die Woke-Kultur nahezu alle Lebensbereiche – mit gefühlt exorbitanter Intoleranz. Erinnert es an Totalitarismus? Esther Bockwyt bezieht als Gastautorin in ihrem Kommentar bei Stichpunkt Stellung …

Eine neue Ideologie breitet sich in westlichen Gesellschaften aus. Erst leise, dafür aber beharrlich, jetzt mit zunehmender Lautstärke. Sie spaltet jene, die sie erkannt haben, in ihre Verfechter und Gegner. Konflikte und Entfremdung sind in vielen Gruppen die Folge.
Der zentral vorgebrachte Anspruch der Bewegung, Diskriminierung und Unterdrückung von bestimmten Gruppen abbauen zu wollen, macht Wokeness auf den ersten Blick unangreifbar und attraktiv. Ihre Appelle zu Gerechtigkeit, Diversität oder Anti-Rassismus sind positiv besetzt. Doch macht vielleicht gerade das ihr etwaig destruktives Potential – weshalb Wokeness von Kritikern unter anderem als das radikalisierte Orientierungen eingestuft wird – viel schwieriger zu erkennen?
Die unschuldig wirkende Duden-Definition von „woke“: „im hohen Maße politisch wach und engagiert gegenüber v.a. sozialen, rassistischen und sexistischen Diskriminierungen“ vermag die Breite und Tiefe der woken Denkschablonen jedoch nicht zu erfassen. Verweise sie doch zugleich bereits auf einen möglichen ungesunden Aspekt der Wokeness: Wer übermäßig wach ist, kommt auch nicht zur Ruhe!
Allumfassende Wachheit – doch woher kommt’s?
Wokeness ist zugleich eine Bewegung, die vorwiegend aus dem US-Raum stammt. Gleichzeitig handelt es sich dabei auch um eine Art Glaubenssystem – eine Weltanschauung mit dezidiertem Menschenbild. Diese Bewegung ist gesellschaftspolitisch aktivistisch agierend, wobei sie augenscheinlich bestimmte, sehr umfassende gesamtgesellschaftliche Veränderungen anstrebt.
Sie dehnt sich von ihrem ursprünglichen Thema des Antirassismus auf weitere Felder wie Gender, psychische Gesundheit, Body-Positivity oder Polyamorie aus, denen aber die zugrundeliegenden Theorien und das woke Denkmuster gemeinsam sind. Im Wesentlichen sind das die Annahmen über eine strukturell rassistische und diskriminierende Verfassung westlicher Gesellschaften. Einerseits bestünden diese demnach aus Unterdrückten – auch Marginalisierte genannt – und andererseits Unterdrückern, die mit Macht ausgestattet seien. Diese angenommenen Machtverhältnisse müssten aufgelöst und umgekehrt werden.
Es bestehe unter anderem struktureller und allumfassender Rassismus. Demnach seien Weiße oder „weiß gelesene Menschen“ in ein rassistisches System geboren und trügen den Rassismus stets in sich. Aber auch struktureller Sexismus, struktureller Ableismus und andere strukturelle Diskriminierungen seien in diesen Gesellschaften vorherrschend. Auch wer „normschön“ ist, hat aus Sicht der Wokeness-Bewegung ein bedeutsames Privileg – für das er sich mindestens reumütig zu rechtfertigen hat.
Institutionen werden stillschweigend infiltriert
Ihre Ursprünge findet man im universitär-akademischen Milieu, ursprünglich in der Philosophie der sogenannten Postmoderne. Postcolonial Studies, Queer- und Gender-Studies, oder Critical Race Theory sind prominente woke Felder und Theorien.

Wokes Gedankengut weitete sich aber auch auf andere Studienrichtungen aus – und fand überdies als „woke capitalism“ sogar Einzug in die Selbstdarstellung von Unternehmen und deren Werbemaßnahmen, in staatliche Organisationen, NGOs und Medien. Und künftig möglicherweise auch in Gesetze, wie das Selbstbestimmungsgesetz. Die sogenannte Identitätspolitik beschreibt das Phänomen, dass aktivistisch motivierte politische Forderungen für die jeweiligen marginalisierten Gruppen erhoben werden.
Kollektivistische Ideologie unter Vernachlässigung des Individuellen
Wokeness bedeutet in erster Linie auch die Einteilung von Menschen nach deren Gruppenidentitäten – basierend auf Hautfarben, sexuellen Orientierungen, vermeintlichen Nachteilen aufgrund von körperlicher Attraktivität und Gesundheit, beziehungsweise Behinderungen und vieles mehr. Gerade hier kommt die Frage auf, ob nicht elementare Widersprüche in der Wokeness verhaftet sind, wenn ihre Verfechter nach einem Höchstmaß an Freiheit für das Individuum zu streben vorgeben?
Betrachte man zum Beispiel nur die Möglichkeit, sich mit jedweder Identität identifizieren zu können. Gleichzeitig legt die woke Bewegung das Individuum aber auf ein kollektives Identitätsmerkmal festlegt, das höher gewichtet wird als die Individualität. Ist daher Wokeness nicht viel mehr als kollektivistische Anschauung zu verstehen, die neoliberale beziehungsweise nur dem Anschein nach liberale Elemente in sich trägt?
Keine Objektivität außer Diskriminierungen

Wissen, Sprache und gesellschaftliche Ordnungen seien letztlich immer und ausschließlich Ausdruck von Machtverhältnissen – und eine objektive Wahrheit werde von diesen Verhältnissen untergraben. Alles sei Ausdruck der Machtherrschaft der Weißen, auch die Wissenschaft könne und dürfe nicht objektiv sein, letztlich handele es sich nur um Narrative, also Erzählungen aus einem subjektiven Blickwinkel. Das hat natürlich weitreichende Folgen in Bezug auf das, was wir Realität nennen, auf die wir uns gemeinsam einigen. Wie sähe eine Welt aus, in der man alle begrenzenden Realitäten, wie das Geschlecht oder das Alter, sprengen möchte?
Wird ein demokratischer Diskurs durch woke Identitätspolitik letztlich verunmöglicht? Kritik kann durch Vertreter der „Mehrheitsgesellschaft“ nicht stattfinden, da diese als Teil des toxischen Systems begriffen werden. Wenn sie kritisieren, wird deren Kritik als Beweis für die Existenz des postulierten toxischen Systems ausgelegt. Wer als Weißer Wokeness kritisiert, beweist, dass er, ganz wie postuliert, nur an der Aufrechterhaltung seiner Macht interessiert ist. Es handelt sich um einen Zirkelschluss.
Der Mensch als Opfer
In einer demotivierenden Perspektive auf das Leben von Menschen – immerzu mit Fokus auf eine externale, eine von außen kommende Schädigung des als vulnerables Opfer verstandenen Individuums – versucht man, sich vor unangenehmen, kränkenden Empfindungen, die als schädigend und traumatisierend verstanden werden, zu schützen. Es resultieren „sensible“ Sprache, „safe spaces“, Triggerwarnungen, „Awareness-Teams“ und so weiter. Das Ziel ist immer, Verletzungen zu vermeiden. Doch das Leben ist nicht denkbar ohne Kränkungen, die im gewissen Ausmaß auch das Erwachsenwerden und die Widerstandsfähigkeit eines Menschen fördern. Worte werden im woken Verständnis zu Gewalt, auch wenn sie noch so harmlos erscheinen. So gilt zum Beispiel „Er meistert seine Behinderung“ als ableistisch, oder „Wo kommst du her“ als rassistisch.

Wokeness verstärkt mit diesem Denkmuster emotionale Zerbrechlichkeit gepaart mit überhöhtem Narzissmus, der identitär um sich selbst kreisend das Feindbild des „alten weißen Mannes“ in der Hierarchie der vermeintlich Privilegierten braucht, um eine aggressiv motivierte Abwertung des anderen zu rechtfertigen. Dabei wird die Schwarz-Weiß-Schablone angelegt – „der alte weiße Mann sähe das Schlechte stets im Fremden“. Und das wiederum wird auf die gesamte westliche Gesellschafts-Struktur projiziert, die somit als per se diskriminierend und mit multiplen Problemlagen behaftet gilt.
Wokeness demotiviert Menschen zur erwachsenen Übernahme von Verantwortung, mindert ihre Widerstandsfähigkeit und implementiert auf Seiten der vermeintlich Unterdrückten und Benachteiligten ein Dauergefühl von hilfloser Wut und verbitterter Unzufriedenheit, die man wiederum mit Klagen und Angriff zu bewältigen versucht. Auf Seiten der vermeintlich Priviligierten entstehen entweder ungesunde Schuldgefühle und Unterwerfung oder trotzige Reaktanz, wodurch ein Kulturkampf entsteht, der sich immer weiter aufschaukelt.
Planwirtschaft des Gefühls
Im Versuch einer planwirtschaftlich anmutenden Regulierung menschlicher Gefühle, Verhaltensäußerungen und Gedanken sowie der zwischenmenschlichen Beziehungen mit Liebe zum Gebot und Verbot führt Wokeness zu einer zwanghaft-rigiden Einengung des Freiraums menschlichen Erlebens. Der woke Kampf kennt keinen Endpunkt, weil Perfektion nicht erreichbar ist und sich in einer Wahrnehmungseinengung immer weitere vermeintliche Diskriminierungs- und Unterdrückungsformen finden.

Es ergeben sich Ausweitungen auf alle Lebensbereiche, Räume, Themen, Kulturinhalte, dabei Veränderungen um des puren Veränderns willen anstrebend. Ohne vermeintliche Probleme gäbe es keinen Anlass für den wütenden Kampf gegen das Bestehende, das Bewährte, das Konservative. Wenn man sie derart weit fasst, dass sie nicht mehr messbar, sondern beliebig sind, kann man dem Leben eine Sinnhaftigkeit verleihen, während man sich gleichzeitig als besonders erwachter, gerechter Mensch narzisstisch aufwertet, der „mutig“ in den Kampf zieht gegen das vermeintlich strukturell Toxische in westlichen Gesellschaften.
Woke Ideologie – Durchsetzung um jeden Preis
Am prominenten Beispiel der Gendersprache lässt sich anschaulich erkennen, dass trotz überwältigender Ablehnung in repräsentativen Umfragen bei der Bevölkerung die Ideologie um jeden Preis durchgedrückt werden soll. Gleichzeitig behauptet man, es handele sich um eine organische, natürliche Entwicklung der Sprache. Die Ignoranz des Mehrheitswillen in der Überzeugung, im Besitz der Wahrheit zu sein, führt letztlich zu Gegenreaktionen, die von Trotz, über Reaktanz bis hin zu Ablehnung führen. Bezeichnend die Notwendigkeit, geltende Rechtschreibregularien in staatlichen Institutionen als verbindlich durchsetzen zu müssen. Die woke Empfindlichkeit in Bezug auf derartige Gegenreaktionen offenbart noch einmal, wie fundamental bedeutsam die eigene Weltanschauung und die Durchsetzung entsprechender Prinzipien für ihre Vertreter ist.

Mit ihrer unterkomplexen Aufteilung der Menschheit in Täter und Opfer trägt die woke Weltanschauung zu Spaltung zwischen Menschen und mittels „sicherer Orte“ zu Gruppenseparierungen bei. Mit ihrer system-umstürzlerischen Energie und der „alles ist relativ“-Leugnung von Realitäten (wie auch den biologischen Einflüssen) raubt Wokeness Menschen ihren halt- und sicherheitsspendenden Boden, eine gemeinsame, verbindende Wirklichkeit und damit auch ein wesentliches menschliches Grundbedürfnis. Mit ihrer Intoleranz gegenüber jeder abweichenden Meinung und der Verwässerung sämtlicher Diskriminierungsbegriffe führt Wokeness zu Einengung und Verlust der individuellen Freiheiten, der Meinungs-, Kunst-, und Wissenschaftsfreiheit.
Infos zum Buch:
Erscheinungstermin | 05.02.2024 |
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Einbandart | kartoniert |
Seitenanzahl | 224 |
ISBN | 9783864894442 |
https://westendverlag.de/Woke/2082
Über den Autor
Der geborene Bamberger studierte nach dem Abitur am humanistischen Gymnasium klassischen Gesang und Musiktheater – unter anderem an der Folkwang Universität der Künste. Parallel erwies er sich von je her als fokussierter Ausdauersportler in unterschiedlichsten Disziplinen und vor allem als passionierter Gleitschirmpilot. Seine Flugleidenschaft konnte er schließlich 2017 zum Beruf machen, als er die Redaktionsleitung eines renommierten deutschsprachigen Gleitschirm-Magazins (Thermik Magazin) übernahm.
Immer wieder unternahm Philipp auch ausgedehnte Gleitschirmexpeditionen, wo er international diverse Gebirgszüge – darunter 2018/19 das Kaukasusgebirge – fliegend und zu Fuß durchquerte. Über die zwischenmenschlichen Begegnungen und sportlich mitunter extremen Abenteuer berichtet er seit 2015 auf https://unterwegsmitstoff.wordpress.com/.
Nach einem mehrjährigen Ausflug ins Industrie-Marketing – wo er für die Öffentlichkeitsarbeit verschiedener Konzerne in Oberösterreich verantwortlich gewesen ist – aber auch unter dem Eindruck der großen gesellschaftlichen Umwälzungen seit 2020 kehrt der fliegende Sänger nun dorthin zurück, wo er seine humanistischen Ideale beruflich am ehesten verwirklicht sieht: im gesellschaftskritischen Journalismus.