Wer Begriffe nicht klar verwendet, der läuft Gefahr, Ereignisse und Phänomene zu verfälschen oder ins Fahrwasser von Propagandasprache zu geraten. In der gegenwärtigen Weltlage mit dem Krieg in Israel und Gaza ist ein verantwortungsvoller und behutsamer Umgang mit Begriffen besonders wichtig und notwendig.
Von der Fachsprache zu den Plastikwörtern
Begriffe sind in der Regel dazu da, einen klar definierten Sachverhalt zu bezeichnen. Anders als bei Wörtern aus der Alltagssprache, deren Bedeutung im Laufe der Geschichte einem steten Wandel unterzogen ist, sind Begriffe oft Termini im fachsprachlichen Sinne und dadurch in ihrer Bedeutung auch über die Zeit hinweg stabiler. Das „Lichtraumprofil“ etwa, ein Begriff aus der Schifffahrt, dem Tunnelbau und dem Eisenbahnwesen, bezeichnet die Umgrenzung des lichten Raums bei dem Fahrtweg eines Fahrzeuges und ist im Laufe der Jahrhunderte als Bezeichnung weitgehend gleichgeblieben, auch wenn sich bestimmte Aspekte durch den Fortschritt der Technik etwas verändert haben. Ebenso sind historische und politikwissenschaftliche Begriffe in der Regel klar umrissen und nicht nur loses Wortmaterial, das man nach Gutdünken verschieden zusammensetzt.
Problematisch wird es daher, wenn Begriffe derart häufig verwendet werden, dass ihre Bedeutung dadurch verwässert oder gar völlig ausgehöhlt wird. Der Linguist Uwe Pörksen (*1935) sprach in diesem Zusammenhang schon in den 1980er Jahren von Plastikwörtern: Durch die Übertragung eines Begriffes aus einem fachsprachlichen Zusammenhang in einen anderen Bereich und durch inflationären Gebrauch wird er unpräzise bis nichtssagend.1 Pörksen meinte dabei etwa ständig verwendete Begriffe wie „System“ oder „Struktur“ – aber es gibt viele Beispiele für diese Art von Wörtern, auch in der jüngeren Gegenwart.
Plastikwörter und/als Kampfbegriffe
Eine solche Abnützung der Begriffe fand in gesteigertem Ausmaß in den letzten Jahren seit Beginn der Corona-Krise statt: Ständig bemüht wurde etwa der Solidaritätsbegriff, der aufgrund seines häufigen Gebrauchs vor allem dazu verwendet wurde, um zu signalisieren, dass man auf der „richtigen“ Seite steht. Gegenwärtig findet der Begriff in den jüngsten Aktivismus-Ausformungen neuen Aufschwung: „Solidarität mit Palästina“, oder „Solidarität mit Israel“. Die Frage, die sich dabei stellt, lautet: Was bedeutet das eigentlich konkret, was ergibt sich daraus? Vermutlich weiß man das gar nicht so genau, denn bei den Plastikwörtern geht meist die Inhaltsseite verloren und nur die Ausdrucksseite, das konkrete Wort bleibt bestehen: als soziales Signal, um sich zu einer Gruppe zugehörig zu machen, um intelligenter zu wirken, als Projektionsfläche, oder als alles zusammen.2
Auch der Begriff „Experte“ wurde in den letzten Jahren medial und politisch so oft wiederholt, dass man schließlich das Gefühl hatte, es würde am Ende Experten für die trivialsten Dinge geben.3
Antisemitismus und Rechtsextremismus
Doch auch politikwissenschaftlich und historisch klar definierte Begriffe wie Rechtsextremismus und Antisemitismus wurden derart häufig und schließlich auch in verschiedener, vulgarisierter Form verwendet (z.B.: „Nazi“, „Rechter“, „Verschwörungstheoretiker“, „Schwurbler“, „Corona-Leugner“ etc.), dass sie zu inhaltsleeren Kampfbegriffen mutierten. Den tatsächlichen Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretikern (und ja, solche gibt es!), die sich dem „Corona-Widerstand“ anschlossen, kam dies gerade Recht; sie vereinnahmten die Bewegung, versuchten ihr den eigenen Stempel aufzudrücken und zogen dabei Leute in ihre Telegram-Untiefen.
Diese, man könnte sagen, Schändung des „Widerstands“ durch Populisten ist vor dem Hintergrund der realen Verwerfungen und Missstände während der Corona-Krise besonders problematisch und tragisch, weil dadurch jegliche Kritik in Misskredit gezogen und nachvollziehbare mit völlig überzogener bis wahnwitziger Kritik vermischt wurde.
Jeder, der etwa auf den großen Einfluss von Bill Gates auf die WHO hinwies, wurde mit einem Mal als Antisemit gebrandmarkt, ebenso wie die Kritik an Pharma-Lobbyismus plötzlich zur Verschwörungstheorie wurde oder der Begriff „Big Pharma“ zum antisemitischen Code.
Aufgrund einer regelrechten Nazi-Besessenheit „linker“ Medien scheinen allerdings viele Leute nur mehr mit den Augen zu rollen, wenn man ihnen etwa mit dem Begriff des Antisemitismus kommt. Die Abnutzung solcher Begriffe im öffentlichen Diskurs hat leider dazu geführt, dass derlei nicht mehr ernst genommen wird, obwohl die damit bezeichneten Phänomene weiterhin existieren und insbesondere seit den Ereignissen in Israel/Gaza auf unterschiedliche Weise wieder reaktiviert werden, wie ich an anderer Stelle genauer besprechen werde. Den tiefsitzenden Antisemitismus europäischer Prägung und in muslimischen Communities zu negieren oder abzutun verkennt die Lage völlig. Auch tatsächliche Versatzstücke antisemitischer Verschwörungstheorien, die im Fahrwasser der Corona-Pandemie durch soziale Medien durchaus weite Verbreitung fanden, müssen berücksichtigt werden.4
Zugleich findet der Begriff des Antisemitismus (wie auch jener der Verschwörungstheorie) z.T. eine derart breite und undifferenzierte Verwendung (auch vonseiten der Politik), dass man von gezieltem Missbrauch dieser Begriffe ausgehen muss.
Auf diesen Aspekt hat übrigens auch der israelisch-deutsche Soziologe Moshe Zuckermann in seinem durchaus kontrovers diskutierten Buch „Der allgegenwärtige Antisemit“5 hingewiesen; er bezeichnet die Gleichsetzung von Israel-Kritik mit Antisemitismus und das Diffamieren von Andersdenkenden durch diesen Begriff als antiaufklärerisch und nicht-humanistisch.
Umgekehrt kann sich in der überbordenden Kritik an Israel durchaus profunder Antisemitismus verstecken, der bis zur Delegitimierung des gesamten Staates reicht6; auch hier gilt es, genau hinzusehen.
Den tatsächlich antisemitischen, rechtsextremen und neonazistischen Akteuren kommt jedenfalls diese Verwässerung der Begriffe, die auch während der Corona-Krise stark von politischer Seite ins Feld geführt wurde, um Gegner oder kritische Stimmen zu diskreditieren, nur zugute.
Wer meint, „links“ und „rechts“ würden als Kategorien überhaupt keine Rolle mehr spielen, der verkennt, dass es sich real existierende rechtsextreme Kreise hinter dieser negativen Pauschalfremdzuschreibung gegenüber jedem kritischen Bürger bequem machten und so in die Mitte der Gesellschaft diffundieren konnten; denn wenn jeder ein Rechtsextremer ist, ist plötzlich keiner ein Rechtsextremer. Dass selbsternannte linke und liberale Kräfte mit dieser undifferenzierten Diffamierung, die sich sowohl gegen Durchschnittsbürger als auch gegen unliebsame Intellektuelle und Experten wendete, den Siegeszug der Rechtsextremisten weiter befeuern, versuche ich übrigens seit zwei Jahren immer wieder zu betonen.
Umgekehrt wurde auch der Begriff „Faschismus“ von Corona-Demonstranten oder Aktivisten flapsig und teilweise ohne spezifische Definition mit Blick auf die Corona-Maßnahmen verwendet.
Israel und Gaza: aktuelle Begriffsverwirrungen
Gerade die gegenwärtige Situation in Israel und Gaza führt auch in unseren Breitengraden zu einer gefährlichen Gemengelage, der man mit klarer und nüchterner Begriffsarbeit entgegentreten muss.
Angesichts des Leids der israelischen Bevölkerung und angesichts der Schrecken, die nun insbesondere die Zivilbevölkerung im Gazastreifen durchmachen muss, scheint diese Forderung wie eine verkopfte Elfenbeinturm-Diskussion anzumuten: sie ist es aber nicht. Denn nur wenn wir hier begrifflich klar arbeiten, können wir die Geschichte und die Lage im Nahen Osten differenziert beurteilen und tatsächliche Phänomene des Antisemitismus und der Israel-Feindlichkeit vom Antisemitismus-Vorwurf als Kampfbegriff ganz genau unterscheiden und dabei die Regierung Israels in die notwendige Verantwortung bezüglich der Menschenrechte nehmen.
Wichtig ist es daher, auch bei anderen Begriffen ganz genau zu sein. Wer etwa den Terroranschlag der Hamas auf israelische Zivilisten und Touristen vom 7. Oktober als Pogrom bezeichnet7, begeht einen Fehler. Ein Pogrom ist gemäß der Definition des Begriffes eine (staatlich oftmals geduldete) Ausschreitung vonseiten einer Mehrheitsgesellschaft gegenüber einer religiösen oder ethnischen Minderheit im eigenen Land.8 Der Anschlag der islamistischen Hamas auf Israel kann daher kein Pogrom sein. Man muss einen Terroranschlag von einem Pogrom unterscheiden, auch aus historischen Gründen. Hier zu differenzieren ist sehr wichtig, denn der Begriff Pogrom erzeugt die Assoziation mit Ausschreitungen gegenüber Juden z.B. im europäischen Mittelalter, im Zarenreich oder im Nationalsozialismus. Die gegenwärtige Situation im Nahen Osten ist aber ganz anders geartet, da die Terrorgruppe die Grenze zu Israel überwunden hatte und auch ausländische Touristen unter den Opfern waren.
Auch, wenn man diesen Anschlag mit dem Holocaust in Verbindung bringt, so begeht man einen Fehler und missbraucht den Holocaust als Mittel zur drastischen Zuspitzung eines eigentlich anders gearteten Ereignisses.
Auf der anderen Seite findet sich auf Social Media häufig der mittlerweile pejorativ verwendete Begriff des Zionismus als Bezeichnung der israelischen Politik gegenüber den Bewohnern des Gazastreifens oder überhaupt als Synonym für die Unterdrückung der Palästinenser. Hier muss man aufpassen, nicht tatsächlich einer antisemitischer Verwendung des Begriffes auf den Leim zu gehen, in welcher der Zionismus als eine bösartige imperiale Kraft bezeichnet wird, stereotype Bilder einer „zionistischen (= jüdischen) Weltverschwörung“ erzeugt werden oder gar von zionistischen Kräften im Westen die Rede ist.9 Dies sind ganz klar antisemitische Stereotype.
Der Zionismus geht als nationalistische Ideologie auf das 19. Jahrhundert zurück, jenes Jahrhundert, in dem die Nationalismen im heutigen Sinne überhaupt erst entstanden. Der Hintergrund war jedoch ein anderer als etwa beim deutschen Nationalismus: es gab bis ins 20. Jahrhundert hinein keinen Judenstaat. Vor dem Hintergrund der historischen Ereignisse wie etwa der Dreyfusaffäre in Frankreich10
oder der Pogromwellen in Russland Ende des 19. Jahrhunderts waren die Urväter des Zionismus wie Theodor Herzl damit beschäftigt, die Idee eines jüdischen Staates zu verfolgen, damit Juden in Ruhe und Frieden leben können; dies vor allem ohne jeglichen religiösen Dogmatismus, denn der Zionismus war ursprünglich säkulär ausgerichtet.11 Diese Idee hat zu progressiven Ideen des Zusammenlebens geführt, wie etwa in der basisdemokratischen Lebensform des Kibbuz, die nach der Gründung Israels sehr verbreitet war und nach wie vor ist. Dass sich der Zionismus schließlich zum religiösen und rechten bis rechtsextremen Neozionismus der Gegenwart hin entwickelte, der besonders rassistisch gegenüber Arabern agiert, ist die Tragik der Geschichte. Zu bemerken ist jedoch auch, dass die UNO-Resolution von 1975, die den Zionismus als eine Form von Rassismus und rassistischer Diskriminierung bezeichnete, im Jahr 1991 wieder aufgehoben wurde12, was verdeutlicht, dass die Sache eben nicht so einfach ist, wie man sie sich gerne vorstellt; insbesondere nicht beim Nahost-Konflikt.
Um Phänomene adäquat zu beschreiben, braucht es also einen sehr präzisen Umgang mit Begriffen, denn Konflikte beginnen unter anderem durch Ungenauigkeiten in der Sprache, die emotionale Reaktionen bewirken und geschichtliche Entwicklungen verkürzt darstellen.
Gerade die gegenwärtig sehr aufgeheizte Debattenkultur benötigt daher unbedingte Sprachgenauigkeit, um deeskalierend auf die Gesellschaft zu wirken.
- Vgl. Uwe Pörksen: Plastikwörter: Die Sprache einer internationalen Diktatur. Klett-Cotta 1988/2011.[↩]
- Dass diese Art von Solidarität oft etwas Abgründiges besitzt, habe ich in folgendem Artikel versucht genauer zu skizzieren: https://www.jandavidzimmermann.com/post/abgr%C3%BCndige-solidarit%C3%A4t , abgerufen am 06.11.2023.[↩]
- Im Zusammenhang mit Corona sehr beliebt war etwa das Befragen sogenannter „Belüftungsexperten“, wie in diesem Artikel: https://www.stern.de/gesundheit/lueften-gegen-corona-viren—es-gibt-kaum-jemanden–der-das-haeufig-genug-macht—sagt-der-experte-9369934.html , abgerufen am 06.11.2023.[↩]
- Die Thematik der Verschwörungstheorien ist ein derartiges Fass ohne Boden, dass ich eine genauere Besprechung vertagen muss.[↩]
- Vgl. Moshe Zuckermann: Der allgegenwärtige Antisemit oder die Angst der Deutschen vor der Vergangenheit. Westend Verlag 2018.[↩]
- Vgl. etwa die sehr detaillierten Ausführungen der Linguistin Monika Schwarz-Friesel zu Israel, insbesondere ab Minute 18: https://www.deutschlandfunkkultur.de/antisemitismus-forscherin-monika-schwarz-friesel-null-100.html , abgerufen am 07.11.2023.[↩]
- Vgl. https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/das-brutalste-pogrom-seit-dem-holocaust-israels-woche-des-schreckens–eine-rekonstruktion-10613083.html , abgerufen am 07.11.2023.[↩]
- Vgl. https://www.politik-lexikon.at/pogrom/[↩]
- Die Assistenzprofessorin Jemma DeCristo von der University of California twitterte z.B. am 10. Oktober darüber, dass sich zionistische Journalisten in den USA fürchten sollen, Zitat: „They can fear their bosses, but they should fear us more.” – vgl. https://www.thejc.com/news/world/us-professor-posts-tweet-threatening-jewish-journalists-and-their-children-and-keeps-her-job-mdKv2PFaBUwgrkh2I9d95 , abgerufen am 07.11.2023. Dies ist eine klar antisemtische Verwendung des Begriffes.[↩]
- Vgl. Richard C. Schneider. Die Sache mit Israel. Fünf Fragen zu einem komplizierten Land. Deutsche Verlagsanstalt 2023, S.33-34.[↩]
- Vgl. Brockhaus A-Z Wissen in 6 Bänden. Band Sterr – ZZ, F.A. Brockhaus 2012, S. 915.[↩]
- Vgl. Vgl. Brockhaus A-Z Wissen in 6 Bänden. Band Sterr – ZZ, F.A. Brockhaus 2012, S. 915.[↩]
Über den Autor
Jan David Zimmermann ist Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftsforscher. Seine Essays und Beiträge erscheinen unter anderem in der Berliner Zeitung, Cicero, oder dem Stichpunkt Magazin.