Vorbemerkung: Dies ist der Auszug aus einem Essay, das ich derzeit schreibe und das in nächster Zeit in gedruckter Form erscheinen wird. Das Thema ist die Reise meiner Frau Bianca, unserer beiden Hunde Maddoxx und Bolle und mir von Deutschland nach Russland mit einer Zwischenstation in Ungarn. Unser Auswandern begann gedanklich kurz nach dem Beginn der Corona-Episode Anfang 2020 und endete faktisch im April und Mai 2024. Diesen Zeitraum wird auch das Essay beschreiben.
Hier folgt nun aber mein Reisebericht zwischen Lettland und Russland. Die Erinnerungen sind noch frisch, daher ziehe ich diesen Teil zur Veröffentlichung vor.
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Nachdem ich in Warschau übernachtet hatte, fuhr ich durch ein Land, das ich vorher noch nie gesehen hatte: Litauen. Und tatsächlich sah ich es auf meiner Fahrt nach Russland auch nicht so, wie es jedem Land zusteht: in Ruhe und mit der nötigen Aufmerksamkeit. Denn ich wollte es hinter mir lassen, wollte nach Lettland, um von dort aus nach Russland, meine Zielort, zu gelangen.
Litauen
Als ich in Litauen ankam, als ich also mit meinem Wagen die polnische Grenze überschritt, war der Unterschied überdeutlich. Ich durchfuhr ein armes Land. Die Straßen waren in einem schlechten Zustand, die Gebäude waren es ebenfalls. Ich möchte mir auch heute kein umfassendes Urteil über Litauen erlauben, schließlich habe ich es nur durchfahren und konnte mir kein Bild des ganzen Landes machen. Aber was ich sah, wirkte traurig auf mich.
Es war, als überschritt ich von Polen aus eine Grenze zur Armut. Und doch gab es auch Glanz und Hochwertigkeit in Litauen. Ich meine die Geschäftsgebäude. Verglichen mit den Mietshäusern und den Einfamilienhäusern wirkten sie fast schon prachtvoll. Ich sah Häuser, in denen Menschen lebten, Häuser, die vom Zerfall zeugten. Und direkt daneben: moderne Bauwerke, die Lebensqualität und Luxus repräsentierten, die mich anlachten und sagten: Komm her, betritt unsere Räumlichkeiten, wir haben Produkte, Dienstleistungen, die dein Leben bereichern werden! Geh’ einfach durch unsere Eingangstür, und es wird dir gutgehen.
Abgesehen von der Tatsache, dass ich keine Zeit und ein ganz anderes Ziel hatte, wollte ich durch diese Türen nicht gehen, denn die scheinbare Bereicherung, die mich in diesen Gebäuden erwarten sollte, stand der Armut der Nachbarbauten gegenüber. Der Kontrast war groß, die ganze Fahrt über dachte ich, dass etwas nicht stimmt in einem Land, das Prachtbauten von Unternehmen baufälligen Häusern gegenüberstellt, scheinbar ohne diesen schmerzhaften Kontrast wahrzunehmen. Doch ich wusste natürlich auch nicht, was sich hinter der oberflächlich schönen Architektur der Geschäftsgebäude befand. Die Unternehmen, die keine Kosten und Mühen gescheut hatten, sich ins beste Licht zu rücken, waren auf Kunden angewiesen, und es fiel mir schwer, in den Häusern um sie herum diese – zahlungskräftigen – Kunden ausmachen zu können.
Womöglich lag ich komplett falsch mit den Schlussfolgerungen eines Mannes, der einfach nur ein Land durchquerte und auf schlechten Straßen zu einem Urteil gelang, das diesem Land in Gänze nie und nimmer gerecht werden konnte. Aber ich sah, was ich sah.
Lettland
Sobald ich die lettische Grenze überschritten hatte, wurde die Qualität der Straßen besser, die Gebäude waren ebenfalls in einem besseren Zustand. Alles wirkte leichter, entspannter auf mich, die Menschen schienen gelöster zu sein. Die Unterschiede zu Litauen waren nicht trivial, sondern offenkundig. Auch Lettland präsentierte sich mir nicht als ein wohlhabendes oder gar reiches Land, aber es erinnerte mich eher an Polen als an Litauen.
Die Fahrt zu meiner Unterkunft war unkompliziert (in Litauen hatte ich keine Übernachtung geplant, es wäre Zeitverschwendung gewesen), als ich ankam, erwartete mich ein Hotel, das schon fast karibisch wirkte, wenngleich die Temperaturen und das Umfeld dem widersprachen. Ich freute mich trotzdem, die Fahrt von Ungarn über Polen lag mir in den Knochen, und Maddoxx und Bolle wirkten auch nicht unbedingt so, als würden sie etwas anderes akzeptieren als eine Unterkunft, die ein gewisses Flair versprühte. Die Dame am Empfang war sehr nett, zeigte sich allerdings überrascht, als ich ihr von meinen Vierbeinern berichtete. Dafür müsse sie 74,- Euro extra berechnen, sagte sie mir mit mitleidiger Miene. Natürlich akzeptierte ich diesen Preis, wir wollten uns ausruhen, schlafen, und wir hatten noch eine lange Reise vor uns (was den Hunden erfreulicherweise nicht bewusst war, sie hätten mich wohl umgebracht, wenn sie gewusst hätten, was noch auf uns zukommen würde). Später, ich war längst weiter unterwegs in Richtung Russland, bekam ich per Mail auch die schriftliche Bestätigung über die Übernachtungspreise für die Hunde. Pro Hund, so konnte ich nachlesen, würden 10,- Euro fällig. Ich war also einer äußerst freundlichen, aber ziemlich teuren Selbstbereicherung zum Opfer gefallen, aber ich hakte das unter „Dumm gelaufen“ ab. In jedem Fall konnten wir schlafen, alles andere war so egal, wie etwas nur sein kann, wenn man sich nach einem Bett sehnt.
Später am Abend ging ich mit den Hunden nach draußen und traf dort drei Frauen aus Lettland, die mit ihren Familien im Urlaub waren. Die drei verliebten sich Hals über Kopf in meine Hunde und umgarnten sie wie Grazien. Wir kamen ins Gespräch.
Ich erfuhr von ihnen, dass ihre Männer gerade schwimmen waren, und plötzlich sah ich durch eine Fensterscheibe ein kleines Becken, in dem drei Männer planschten. Die Frauen luden mich an ihren Tisch ein, ich wollte ablehnen, weil die Hunde ohnehin schon gestresst von der Reise waren (ich nicht, nein, nein, nur die Hunde!). Aber insbesondere die jüngere der Frauen duldete keinen Widerspruch. Also nahm ich Platz und lehnte – natürlich ebenfalls erfolglos – das Angebot eines „ganz kleinen Glases“ Wodka ab.
Aus dem einen Glas (ich korrigiere: es waren Pappbecher) wurden drei, ich war ein bisschen angetrunken (immerhin konnte ich durchsetzen, dass nicht viel mehr als der Boden mit dem köstlichen Getränk bedeckt war), und die Frauen fragten mich nach dem Zweck meiner Reise. Auf der Durchreise sei ich, antwortete ich ausweichend, weil ich nicht wusste, wie mein Reiseziel bei den drei lettischen Frauen ankommen würde. Sie waren aber ziemlich hartnäckig, also rückte ich raus mit der Sprache. Die Reaktion war Begeisterung, eine der Frauen war selbst Russin, auch die anderen beiden sprachen perfekt Russisch.
Sie feierten mich regelrecht, begannen auf Lettland und den Westen zu schimpfen, gratulierten mir zu meiner Entscheidung, dem Westen den Rücken zu kehren und lobten meinen Mut. Jener Mut sollte sich – aber dazu später mehr – in das exakte Gegenteil verkehren, Tage später sollte aus mir ein nervliches Wrack mit einem ganzen Rucksack voller Ängste werden. Doch in diesem Moment freute ich mich und war erleichtert, dass das Gespräch weiterhin locker blieb. Nach einer Stunde sagte ich, dass ich nun wirklich ins Bett müsse, die drei Frauen entgegneten, auch sie würden jetzt schlafen gehen. Eine weitere Stunde später (trotz der Müdigkeit wollte sich kein Schlaf bei mir einstellen) verließ ich mein Zimmer, um noch eine Zigarette zu rauchen und stellte fest, dass die drei noch immer dort am Tisch saßen und ihre kleine Party feierten. Sie waren einfach höflich gewesen, als sie mir gesagt hatten, dass auch sie jetzt die Nachtruhe einläuten würden.
Es war eine schöne Begegnung.
Zur russischen Grenze
Der nächste Morgen war der Beginn des wichtigsten Tages des Jahres, vielleicht meines Lebens[1] [2] (von meiner Hochzeit abgesehen), mindestens aber der letzten Jahre. Bis zur russischen Grenze waren es noch gute vier Stunden, zumindest nach der Navigationsrechnung. Der Hunderechnung nach wurden daraus fast sechs, denn Maddoxx und Bolle mussten natürlich regelmäßig raus, um zu pinkeln, um zu fressen und kleine Spaziergänge zu machen. Letztlich erreichte ich das Ende der Lkw-Schlange ziemlich genau um 12.00 Uhr mittags. Ich frohlockte, konnte ich doch auf der linken Spur einfach an den Brummis vorbeifahren und mich in fast schon rasendem Tempo dem Grenzposten der lettischen Seite nähern.
Als ich zum Stehen in der Schlange der Pkw und Busse kam, waren vor mir drei Reisebusse und sechs oder sieben Autos. Meine Stimmung hellte sich weiter auf, denn Kollegen hatten mir von möglichen Wartezeiten von zwei bis drei Tagen berichtet. Nach meiner strapaziösen Fahrt aus Ungarn über Polen, Litauen und Lettland hatte ich mir diese kleine Belohnung verdient, sagte ich mir. Davon bin ich noch heute fest überzeugt, allerdings konnte von einer Belohnung keine Rede sein.
Denn da stand ich nun. Und nichts bewegte sich. Zumindest nicht auf meiner Spur. Dafür rauschten im Minutentakt Lkw an mir vorbei. Deren Schlange wurde nicht kürzer, soweit ich das beurteilen konnte, aber die Brummis in den ersten Positionen kamen gut voran. Ich erinnerte mich an meine Vorbeifahrt an ihnen, erkannte einige sogar wieder, die jetzt wiederum an mir vorbeifuhren und kurze Zeit später im Niemandsland zwischen Lettland und Russland aus meinem Sichtfeld verschwanden.
Der Tag ist noch jung, dachte ich mir und stieg aus, um nachzusehen, wie die Lage am ersten Schlagbaum war. Sie war unbeweglich, nichts tat sich. Relativ weit vorn stand ein Wagen mit einem deutschen Kennzeichen. Drinnen saß eine Frau, die ich befragte. Hier gehe bis auf Weiteres nichts, sagte sie mir mit russischem Akzent. Ich wunderte mich, immerhin standen vor ihr gerade einmal zwei Busse und ein Pkw. Als ich erfuhr, dass sie an genau diesem Punkt seit 01.00 Uhr letzter Nacht stand, wurde mir mulmig. Wie konnte das möglich sein? Sie erklärte mir, dass im Moment nur Lkw durchgelassen wurden, und ich fragte mich, wie genau das gemeint war, das mit dem „Moment“, saß sie doch schon seit ca. 12 Stunden dort, wo sie jetzt saß.
Die Frau im Auto riet mir, mit meinen Hunden zum Grenzposten zu gehen und Mitleid zu erzeugen. Wer kleine Kinder oder Hunde habe, könne mit etwas Glück vorgelassen werden, sagte sie wenig überzeugend. Ich tat, wie mir empfohlen, setzte die wehleidigste Miene auf, die mir zur Verfügung stand (das war eine Kleinigkeit, denn ich fühlte mich völlig erschöpft und litt genügend Qualen, um Wehleidigkeit in absolut authentischer Reinkultur zur Schau tragen zu können) und ging zum Grenzposten.
Ich hätte auch mit dem Schlagbaum sprechen können, womöglich hätten meine Chancen auf Gnade dort sogar realistischere Aussichten gehabt. Der Grenzbeamte jedenfalls ließ sich nicht nur nicht erweichen, er wirkte, als hätte er meine Geschichte schon eine Million mal zuvor gehört. Vermutlich war das auch so. Also trottete ich, nachdem ich meinen Korb bekommen hatte, zurück in die Schlange und dachte darüber nach, wie lange das hier noch dauern könnte.
Immerhin: Es war noch hell. Und die Temperaturen waren angenehm. Und es regnete nicht. Ich kramte alles zusammen, was mir an positiven Aspekten in den Sinn kam. Viel war es nicht, aber die Alternative wäre womöglich Dauerregen oder Schnee bei klirrender Kälte gewesen.
Also komm, sieh es positiv, redete ich mir ein.
Die kranke Geschichte eines russischen Arztes
In dieser kleinen Schlange von Autos sah ich weitere deutsche Kennzeichen, und es sollte sich herausstellen, dass es sich dabei vornehmlich um Russen handelte, die nach Russland einreisen wollten. Besonders fiel mir ein Kieler Kennzeichen auf, denn für einen gebürtigen Hamburger wie mich ist Kiel quasi Nachbarschaft. Ich sprach den Fahrer an, der sich mir als Alex vorstellte und der mit seiner Familie Urlaub in Moskau machen wollte.
Wir waren uns sofort sympathisch und kamen ins Plaudern. Nach und nach erzählte er mir seine Geschichte. Und die war unglaublich.
Alex ist Radiologe, ein absoluter Experte, er hat in Russland gearbeitet, in Ungarn und eben auch in Deutschland. Seinen Aufenthaltstitel hat er regelmäßig erneuert bekommen, sodass er an einer Uniklinik arbeiten und dort einen wertvollen Dienst leisten konnte. Seine Frau ist Kinderärztin, die beiden haben zwei Töchter, die sechs und acht Jahre alt sind und naturgemäß beide in Deutschland zur Schule gingen.
Kürzlich musste Alex erneut seine turnusmäßige Fachprüfung ablegen. Das war kein Problem, doch es hätten noch zwei weitere Prüfungen folgen sollen. Auch die wären kein Hindernis gewesen, berichtete er mir. Allerdings hörte er nichts mehr von den Behörden, was alles ins Stocken brachte. Ohne die Bescheide der Behörden konnte er die weiteren Prüfungen nicht ablegen, ohne die Prüfungen konnte er keinen Aufenthaltstitel bekommen. Ein Teufelskreis.
Ich muss dazu sagen, dass ich Alex’ Geschichte aus der Erinnerung wiedergebe, es ist möglich, dass ich Details vergessen habe oder nicht ganz (behördlich) korrekt schildere. Vielleicht bekomme ich auch zeitliche Abläufe durcheinander, man möge es mir verzeihen, ich selbst war zum Zeitpunkt der Gespräche mit Alex auch nicht unbedingt in einem psychisch und physisch einwandfreien Zustand. Was ich aber mit absoluter Sicherheit sagen kann, ist, dass Alex der Aufenthalt in Deutschland durch die Behörden verunmöglicht wurde. Sie ignorierten seine Anträge, seine Nachfragen, seine Bitten.
Und so erzählte Alex mir nach ein paar Stunden Grenzaufenthalt, dass er zu Beginn unseres Kennenlernens nicht die Wahrheit gesagt hatte. Tatsächlich war er mit seiner Familie nicht auf dem Weg nach Moskau, um Urlaub zu machen. Er fuhr dorthin, um Deutschland zu verlassen. Schon wegen seiner Töchter hatte er das nicht gewollt, er musste sie aus ihrer vertrauten Umgebung herausreißen, hinein in eine Stadt, die ihnen nicht unbekannt, aber eben nicht so vertraut war wie Kiel, wo sie ihre Freunde hatten und zur Schule gegangen waren.
Eine Alternative hatte Alex nicht, denn ohne Aufenthaltstitel konnte er auch die Wohnung nicht weiter halten, in der er mit seiner Familie gelebt hatte. Also blieb ihm eine Frist bis 25. April 2024, um seine Sachen zu packen und die Wohnung zu räumen. Bis zur letzten Minute wollte Alex nicht warten, insbesondere, weil zum Zeitpunkt unseres Gesprächs an der lettischen Grenze nach Russland (das war der 1. April 2024, kein Scherz, glauben Sie mir das!) die Situation unverändert war und die deutschen Behörden ihn weiterhin ignoriert hatten.
Alex war im Laufe der Jahre ein vollwertiges und wichtiges Mitglied der deutschen Gesellschaft geworden und hatte mit seinen medizinischen Fachkenntnissen vielen Menschen helfen können. Man muss ihn wohl als eine der Fachkräfte bezeichnen, deren fehlende Präsenz in Deutschland so gern und so oft bemängelt wird.
Deutschland hat Alex verloren, oder richtiger: Deutschland hat Alex vertrieben.
Nächtliche Überraschung
Irgendwann in der Nacht klopfte es an meiner Fensterscheibe. Neben mir stand der Mann, der in dem Auto hinter mir gesessen hatte. Er signalisierte mir, dass es weitergehe. Glücklich startete ich den Motor. Und fuhr etwa 10 Meter weiter. Für Außenstehende mag das lächerlich erscheinen, aber einer der drei Reisebusse hatte die Grenze überschritten. Das ist bedeutsam, denn pro Reisebus waren etwa 50 Menschen zu kontrollieren. Das heißt, man muss für jede Kontrolle 10, 20, 30 oder wie viele Minuten auch immer einkalkulieren. Rechnen Sie es sich in jeder denkbaren Variante aus, Sie werden schockiert sein! Wenn einer der Reisebusse nun nicht mehr vor mir stand, war das ein riesengroßer Gewinn. Nur noch zwei Busse also. Und ein paar Autos, die nahm ich schon lange nicht mehr ernst, die großen Probleme stellten diese verdammten Busse dar.
Ich nutzte die nächtliche Gelegenheit, um mit meinen Hunden vor die Tür zu gehen. Sie waren wenig angetan, erledigten ihre kleinen Geschäfte aber brav und folgsam, nur um sich danach wieder auf den Rücksitz zu quetschen und weiterzuschlafen. Ich ließ mich auf den Vordersitz gleiten und versuchte einmal mehr, eine Stellung einzunehmen, die mich einigermaßen schmerzfrei schlafen ließ. Die dabei entstandenen Emotionen währten nur wenige Minuten. Ich drehte mich hin und her und merkte plötzlich, dass ich die perfekte Lage entdeckt hatte. Nahezu schmerzfrei seufzte ich, atmete durch und genoss die Position, die ich gefunden hatte. Dieses grenzenlose Vergnügen dauerte meist vier bis sechs Minuten, dann begannen erneut die Schmerzen. Aber die Hälfte der Nacht hatte ich geschafft.
Warum überhaupt mit dem Auto?
Es wird Zeit für eine kurze Erläuterung. Der eine oder andere mag sich vielleicht fragen, wieso ich mir diese Strapazen überhaupt antun konnte. Schließlich kommt man auch mit einem Flugzeug nach Russland, wenngleich über Umwege. Sie müssen aber bedenken, dass ich zwei Hunde bei mir hatte. Für sie wäre eine Flugreise die reinste Hölle gewesen. Meine Hunde sind klein, aber zu groß, um als Handgepäck durchzugehen. Ich hätte sie also in einem Frachtraum unterbringen lassen müssen. Diese Möglichkeit gibt es natürlich, meine Hunde wären nicht die ersten Vierbeiner gewesen, die in einem Flugzeug im Frachtraum geflogen wären.
Doch der Flug nach Russland dauert aufgrund der westlichen Sanktionspolitik etliche Stunden, inklusive Zwischenstopps. Die Zeitersparnis wäre also übersichtlich gewesen. Und meine Hunde wären nicht in meiner direkten Nähe gewesen. Insbesondere Maddoxx (das zarte Wesen unserer beiden Hunde) wäre wahnsinnig geworden, wenn er stundenlang in einer Box im Transportraum hätte verbringen müssen. Offen gestanden bin ich nicht einmal sicher, ob er diese Tortur überhaupt überlebt hätte.
Im Auto waren Maddoxx und Bolle immer in meiner Nähe, sie konnten mich sehen, hören, riechen, ich konnte Gassigänge mit ihnen machen, sie stets mit Wasser versorgen und sie füttern, wenn ihre innere Uhr das anzeigte.
Das nur am Rande.
Und noch etwas: Ich war die ganze Zeit über natürlich im Kontakt mit meiner Frau Bianca. Zusätzlich half mir eine Kollegin durch die Strapazen der Reise. Natalie betrachte ich im Nachhinein als meine Lebensretterin, nicht nur, weil sie regelmäßig nachfragte, wo ich gerade war und wie es mir ging. Sie hatte darüber hinaus Erfahrungen mit dem Auto und Hunden (bei ihr war es ein Vierbeiner, mit dem sie seinerzeit nach Russland reiste). Mit diesem Hintergrund konnte sie mich auf zahlreiche Situationen vorbereiten. Ich werde Natalie für immer dankbar sein, sie hat aus einem Höllenritt etwas gemacht, das zumindest ein paar gravierende Überraschungen weniger bereithielt. In meiner Lage etwas von unschätzbarem Wert.
Und wenn wir schon gerade über meine Hunde sprechen: Ich hatte die lettische Grenze gewählt, weil es dort eine Veterinärstation gibt, die – so hatte ich mich vorher informiert – unverzichtbar ist, wenn man mit Hunden einreisen möchte. Im Vorfeld hatten Bianca und ich in Ungarn alles Mögliche in die Wege geleitet, um alle benötigten Papiere an der Grenze vorweisen zu können. Es war für mich eine grauenhafte Vorstellung, nicht über die Grenze zu kommen, weil irgendein Dokument für Maddoxx und Bolle nicht vorlag.
Und jetzt kommt die Krönung: Auf meiner gesamten Reise wollte niemand auch nur einen Papierschnipsel sehen. Im Nachhinein ist das eine Unverschämtheit! Da macht man und tut man, um bloß nichts falsch zu machen, und dann fühlt sich niemand berufen, die Dokumente zu überprüfen. Eine Frechheit, wirklich! Das bedeutet aber nicht, dass Leser mit ähnlichen Plänen diese Unterlagen für die Hunde ignorieren sollten. Sie wissen ja, es gibt dieses Gesetz von „Murphy“, und ich bin sicher, dass ich alles hätte vorzeigen müssen, wenn ich es nicht dabeigehabt hätte. Fordern Sie also im Falle des Falles das Schicksal besser nicht heraus.
Im Niemandsland
Irgendwann gegen Mittag des nächsten Tages hatte ich an der lettischen Grenze die „Pole Position“ eingenommen. Vor mir hatte der letzte Reisebus die Schranke passiert (ich sollte ihn später wiedersehen), und nun wartete ich darauf, dass auch ich in den Genuss kam, den ersten Schlagbaum zu passieren.
Es dauerte gar nicht so lange, ich zeigte meine Papiere vor und fuhr in Richtung der nächsten Grenze, der Grenze aller Grenzen, der russischen. An einem weiteren Kontrollpunkt fragte ich den Mann im Häuschen, ob ich hinter den Reisebussen (ja, sie waren alle wieder da!) warten müsse oder nicht. Ich zeigte meine Einladung von „Russia Today“, er studierte sie aufmerksam, telefonierte kurz, sagte mir, ich solle zu Fuß zum nächsten Grenzhäuschen gehen und fragen, ob ich vorfahren könne.
Ich konnte! Also wieder zurück zu meinem Auto, den moldawischen Touristen aus den Bussen, die ich flüchtig kennengelernt hatte, noch einmal freundlich zuwinken, und los ging es. Kurze Zeit später stand ich auf einem tristen Platz, vor mir befand sich die russische Grenze. Eine Beamtin lotste mich auf die rechte Seite, wo ich direkt vor dem Schlagbaum aller Schlagbäume zum Stehen kam, dem russischen. Ich sah mein Ziel direkt vor mir, jetzt war es bald geschafft, all die Mühen, die Schmerzen, die Ungeduld, die sich in verzweifelte Geduld verwandelt hatte, der eigene Körpergeruch, der mir zusehends fremder und unangenehmer wurde – all das sollte bald Geschichte sein, nur noch wenige Minuten, nun ja, vielleicht eine oder zwei Stunden, dann hätte ich es geschafft.
Dachte ich. Ich Narr!
Vor dem Schlagbaum nach Russland
Meine Papiere, die ich zum x-ten Mal vorgezeigt und diesmal auch abgegeben hatte, mussten geprüft werden. Der Grenzbeamte war ein freundlicher Kerl, sein Kollege brachte mit vielen Gesten und Worten zum Ausdruck, dass er mein Auto liebe. Damit waren wir zu zweit, denn meine C-Klasse von Mercedes, Baujahr 1996, ist ein wahres Schmuckstück. Ein Schmuckstück übrigens, das sei kurz angemerkt, das mich die ganze Reise über nicht im Stich gelassen hat. Der Wagen ignorierte alles, was Mensch und Hund an den Rand des Wahnsinns trieb und erledigte einfach seinen Job. Er fuhr und fuhr und fuhr. Mein Leben lang waren Autos für mich Gebrauchsgegenstände, nicht mehr und nicht weniger. Aber dieser alte Mercedes, der ist etwas anderes. Er war die zu Blech gewordene Verlässlichkeit, und wenn ich ihn irgendwann einmal seinem Ende zuführen muss, werde ich zurückdenken an diese Tour, auf der er mich ohne Murren begleitet hat, stets bereit und immer in bester Verfassung.
Was jedoch nicht für meine eigene Verfassung galt. Sie wurde nun stetig schlechter. Denn das Warten zog sich in die Länge, und zwar geradezu verheerend in die Länge. Ich stand dort mit meinem Auto, die Hunde durften nicht raus. Irgendwann ignorierte ich diese Anweisung, denn die beiden mussten pinkeln, und wenn es um meine Hunde und deren Grundbedürfnisse geht, bin ich humorlos. Ich ließ sie also (natürlich angeleint und die ganze Zeit unter meiner vollen Kontrolle) aus dem Auto aussteigen, um ihre kleinen Geschäfte zu erledigen. Fast sofort kam eine Grenzpolizistin auf mich zu und signalisierte mir mit unfreundlichen Worten und dazu passender Gestik, dass die Hunde wieder ins Auto müssten. Ich erklärte ihr wahrheitsgemäß, dass ich einen anderen Grenzposten gefragt hatte, ob die Hunde kurz raus dürften, und dass er dies gestattet hatte, aber sie war unnachgiebig. Ich auch, denn ich beförderte Maddoxx und Bolle erst wieder ins Auto, nachdem sie ihre Beine gehoben hatten (was insbesondere bei Maddoxx ein Ritual ist, das sich ein wenig in die Länge ziehen kann).
Die folgenden Stunden sah ich, wie viele bekannte Autos an mir vorbeifuhren. Ich sah auch die Reisebusse wieder, die ich beim Befahren des Niemandslandes hinter mir gelassen hatte. Allerlei Fahrzeuge, die ich hinter mir gewähnt hatte, waren nun plötzlich auf gleicher Höhe mit mir. Und mehr noch: Sie fuhren an mir vorbei, Schlagbäume öffneten sich, schlossen sich, Touristen stiegen in ihre Busse, die anfuhren, Schlagbäume öffneten sich erneut, Busse, Pkw, Transporter fuhren durch. Sie alle hatte ich hinter mir gelassen, nun taten sie das Gleiche mit mir. Lediglich Alex, meinen Radiologen-Freund, sah ich nicht mehr wieder. Ich hoffe, dass er mit seiner Familie heil in Moskau angekommen ist und ich ihn einfach übersehen habe.
Ich verstand es nicht. Warum konnten alle fahren, nur ich nicht?
Ein kurzes Gespräch mit dem Sicherheitsdienst
Gegen Abend sollte ich es verstehen. Aber vorher hatte ich wohl so etwas wie einen Nervenzusammenbruch. Ich saß im Auto vor diesem Schlagbaum seit ungefähr acht Stunden, und all jene, die ich eigentlich hinter mir gelassen hatte, rauschten an mir vorbei, als sei das Überqueren der russischen Grenze lediglich ein hübscher Tagesausflug. Sie müssen sich das vorstellen: Mein Aufenthalt ging auf die 50 Stunden zu und ich konnte einfach nicht verstehen, was ich falsch gemacht hatte. Meine Einladung von „Russia Today“ schien weder eine positive noch eine neutrale Wirkung zu haben, inzwischen dachte ich, dass die Russen mich einfach nicht wollten.
Und so liefen mir plötzlich die Tränen herab. Und als ich erst mal mit dem Heulen angefangen hatte, gab es kein Halten mehr. Ich schluchzte, heulte, ich flennte und jammerte immer wieder in meine Hände vor dem Gesicht hinein: „Ich kann nicht mehr, ich kann nicht mehr. Das ist alles zu viel, es ist zu viel, ich kann nicht mehr.“ Doch der Höhepunkt sollte das noch immer nicht sein.
Mit meinem verheulten Gesicht machte ich mich auf den Weg zur Toilette. Doch kurz davor hielten mich zwei Männer an, die sagten, sie seien von der Security und hätten ein paar Fragen an mich. Ich war inzwischen zu erschöpft, um ängstlich zu sein oder mir Sorgen zu machen. Ich ging einfach mit den Männern in das Gebäude (drinnen saß ein dritter) und ergab mich der Situation.
Die Befragung dauerte etwa eine halbe Stunde, ich werde hier aber keine Details schildern. Die Männer waren bestimmt, aber freundlich, und ich beantwortete ihre Fragen so gut, wie ich es konnte. Später wurde mir klar, dass der Zeitpunkt meines Grenzübertritts kaum schlechter hätte sein können. Nur wenige Tage zuvor war der Anschlag auf die „Crocus City Hall“ in Moskau verübt worden, und insbesondere die USA, die Franzosen und eben auch die Deutschen genossen bei den russischen Sicherheitsbehörden nicht unbedingt großes Vertrauen, um es diplomatisch zu formulieren.
Wie dem auch sei, am Ende verabschiedete sich der Mann, der den Hauptteil der Befragung durchgeführt hatte, und sagte mir lächelnd, dass ich nun mit der Grenzkontrolle weitermachen könne, ich brauche mir keine Sorgen zu machen. Ich schlich zu meinem Auto, beruhigte die einmal mehr verunsicherten Hunde und traute meinen Augen kaum, als sich der Schlagbaum öffnete. Nach Stunden des Stillstands hob er sich einfach und wie von Geisterhand. Ich fuhr in den Bereich zwischen dem ersten und dem zweiten Schlagbaum.
Freundliche Hilfe
Nun ging es um die Durchsuchung meines Wagens und sämtlicher Dinge, die sich in ihm befanden. Zuvor mussten aber noch ein paar Papiere ausgefüllt werden, und dabei bekam ich Hilfe, sehr freundliche und attraktive Hilfe. Ich schickte ein stilles Gebet des Dankes in Richtung des Himmels, der komplett ohne Schlagbäume auskommt. Die junge Frau, mit der ich es zu tun hatte, nutzte meine Übersetzungs-App mit großer Begeisterung und half mir, wo sie nur konnte.
Meine Handschrift ist infolge jahrzehntelangen Schreibens auf Tastaturen inzwischen nur noch ein Klumpen schwer lesbarer Buchstabenzeichen, was die Frau durchaus bemerkte und mich dezent darauf hinwies, ich solle doch bitte versuchen, meine schönste Schrift zu verwenden. In meinem Versuch, das zu tun, schrieb ich meine Handynummer am Ende des einen Antrags falsch, strich sie vehement durch und machte einen neuerlichen Versuch der Schönschrift. Der Antrag war somit fast fertig ausgefüllt und die Frau sagte mir mit trauriger Miene, dass ich in einem offiziellen Dokument nichts durchstreichen dürfe und alles noch einmal ausfüllen müsse. Ich sah ihr an, dass sie keine Scherze machte. Sie selbst könne in meine Anträge nicht schreiben, das dürfe nur ich persönlich. Aber ich könne zunächst einen anderen Antrag ausfüllen, das verschaffe mir wenigstens etwas Abwechslung. Also tat ich das.
Kurze Zeit später – gefühlt waren es wohl ungefähr 17 Jahre später – schob mir die Grenzbeamtin meinen versauten Antrag erneut rüber und lächelte mich in einer Weise an, die ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen werde. Sie hatte sich über die Vorschriften hinweggesetzt und meinen Antrag für mich vollständig ausgefüllt, ich musste nur noch unterschreiben. Ich wollte spontan vor ihr auf die Knie sinken, um meine tiefe Dankbarkeit auszudrücken, aber die Zeit bekam ich nicht (was wohl auch gut war, denn sonst hätte ich mich der kompletten Lächerlichkeit preisgegeben).
Der schriftliche Wahnsinn war erledigt, es folgte das Ausräumen des Autos. Ich hatte unseren alten Mercedes bis zum Rand vollgepackt, er war gewissermaßen unser Koffer, mit dem wir Ungarn verlassen hatten. Eine Auswahl von Büchern, Bekleidung, Küchenutensilien und Badezimmerartikeln und natürlich meine komplette Ausrüstung für das Schreiben (also Computer, Tastatur etc.) und das Sprechen (Mikrofon, Schwenkarm usw.) hatten im Auto Platz gefunden. Dazu zwei Hundekissen, inklusive Maddoxx und Bolle. Ich musste alles ausräumen. Die junge Beamtin war freundlich, charmant, sympathisch und mitfühlend, aber beim Ausräumen des Autos kannte sie kein Erbarmen. Es war wie im Sommerschlussverkauf: Alles muss raus!
Natürlich fanden sie nichts. Ich wollte in Russland leben, den Tod hatte ich nicht im Gepäck. Nachdem das Auto ausgeräumt war, musste ich ein kleines Stück weiter fahren, wo ich in eine große Halle einfuhr. Dort wurde der Mercedes gescannt. Die Hunde und ich warteten draußen, bis das riesige Tor sich mit einem lauten Piepen wieder öffnete. Der zuständige Mitarbeiter für das Scannen wirkte gelangweilt, was ich verstehen konnte. Er hatte nichts anderes zu tun als Leuten zu erklären, dass sie rückwärts in die Halle und auf eine Rampe fahren, den Kofferraum öffnen und draußen warten mussten, bis die Prozedur beendet war. Zum Schluss unterzeichnete ich auf einem Blatt Papier, dass ich mit dem Scanvorgang einverstanden war. Das war ich selbstverständlich, denn ich wollte wieder raus aus der Halle, zurück zu den beiden Schlagbäumen, zwischen denen sich der Inhalt meines Autos befand.
Dort angekommen wartete eine ältere Frau auf mich und meine Hunde, die unser Auto auf Sprengstoff untersuchte, während ein anderer Beamter zusammen mit der jungen Frau, die mir so sehr geholfen hatte, den Inhalt meines Wagens überprüfte. Inzwischen wirkten alle Beteiligten ziemlich gelangweilt, vermutlich, weil sich abzeichnete, dass sie zwar gewissenhaft ihren Job erledigen mussten, mit mir aber keinen Terroristen oder Geheimdienstler überprüften. Das Interesse an mir nahm merklich ab und langsam dämmerte mir, dass diese mehr als 50 Stunden andauernde Tortur demnächst ein Ende nehmen würde.
Und so war es auch. Ich konnte mein Auto wieder einräumen, die Hunde auf ihren Kissen platzieren und war erneut versucht, vor der jungen Grenzbeamtin auf die Knie zu fallen, als diese zu mir sagte: „Sie können jetzt weiterfahren.“ Ich war verunsichert und fragte nach: „Sie meinen, ich kann jetzt die Grenze überqueren und nach Russland einreisen?“ Wieder lächelte sie und bestätigte: „Ja, genau, Sie haben es geschafft. Ich wünsche Ihnen eine gute Weiterfahrt.“
Ich fühlte mich wie in einer Traumwelt, plötzlich wirkte die Szenerie fast surreal, die Realität war da, in mir, um mich herum, und doch betrachtete ich all das irgendwie wie von außen, als sei ich der Beobachter eines Films oder Theaterstücks, der darüber nachdenkt, wie er dieses Werk als Kunstkritiker am besten beurteilen, in Worte fassen kann. Ich wusste es nicht, hätte ich etwas schreiben sollen, um diesen Moment in Worte zu kleiden, es wäre nicht möglich gewesen. Nicht in diesem Augenblick.
Der letzte Schlagbaum
Nachdem der Schlagbaum sich geöffnet hatte und ich mit meinem guten, alten Mercedes noch ein paar Meter gefahren war, war ich in Russland. Ich musste nur noch zur Autobahn kommen, auf der es weiterging. Das gestaltete sich schwierig, denn ich sah überall nur Lkw, massenhaft Lkw. Sie parkten, vermutlich schliefen die Fahrer, die deutlich länger als ich gewartet hatten, bis sie die Grenze überschreiten konnten.
Ich fuhr kreuz und quer durch die Brummis hindurch bzw. an ihnen vorbei und landete: an einem Schlagbaum. Nein, dachte ich, das kann nicht sein! Ich musste mich verfahren haben, denn Schlagbäume waren jetzt keine Option mehr für mich. Also kehrte ich um, fuhr zurück und suchte jemanden, den ich fragen konnte, wie und wo es jetzt weitergehen könnte. Für einen kurzen Moment dachte ich, wieder auf der anderen Seite der Grenze zu sein, Panik durchflutete mich, aber ich bemerkte, dass dem nicht so war. Ich war weiterhin in Russland, kam jedoch nicht weiter. Also fragte ich einen Lkw-Fahrer, wie ich zur Autobahn käme. Er erklärte es mir, und ich stellte fest, dass ich zuvor schon dort gewesen war. Der Schlagbaum dort, erklärte mir der Lkw-Fahrer, sei normal, eine reine Formalität.
Ich fuhr also wieder dorthin, wo ich zuvor bereits gewesen war, zeigte meine Papiere vor, der Grenzposten, der irgendwie keiner mehr war, sondern eine Art letzte Absicherung, öffnete die Schranke recht schnell, sodass ich weiterfahren konnte. Aber den letzten, den wirklich ultimativ letzten Schlagbaum hatte ich noch vor mir, er folgte ca. zwei Minuten später.
Diesmal saß eine Frau im kleinen Häuschen. Sie fragte nach meinen Papieren, ich gab sie ihr, sie schaute sie sich an und sagte dann: „Haben Sie denn keinen kleinen Abschnitt mit einer Nummer drauf?“ Mir wurde heiß, dann kalt, wieder heiß, die Tränen schossen mir einmal mehr in die Augen. „Nein“, antwortete ich, „das ist alles, was ich habe.“
Die folgenden Sekunden dauerten eine Ewigkeit. Dann schaute mich die Beamtin an und sagte etwas auf Russisch, dass ich mir über meine App übersetzen lassen musste. Ihr Gesichtsausdruck war neutral, sie wirkte weder sonderlich streng noch besonders freundlich. Im nächsten Moment wurde mir klar, dass sie einen Scherz gemacht hatte, als sie ihre Mimik so geheimnisvoll und rätselhaft auf mich wirken ließ. Denn was sie zu mir gesagt hatte, war das Folgende:
„Jetzt müssen Sie nur noch warten, bis der Schlagbaum hochgeht, und dann kann es auch schon losgehen.“
Als ich verstanden hatte, was sie gesagt hatte und sie meine Erleichterung erkannte, lächelte sie. Sie nickte mir zu und nahm meine Dankes-Salve von „Спасибо! Спасибо!“ mit großem Vergnügen entgegen. Ich vermute, sie wusste, dass viele, die ihr an diesem Schlagbaum begegnen, nur mit Mühe begriffen, was sie geschafft hatten. Und jetzt konnte es – um mit der Grenzbeamtin zu sprechen – auch schon losgehen: das Leben in Russland.
Ähem … der wichtigste Tag meines Lebens war … na ja, unsere Hochzeit 😛
Ist korrigiert 🙂
Über den Autor
Tom J. Wellbrock ist Journalist, Autor, Sprecher, Radiomoderator und Podcaster. Er führte unter anderem für den »wohlstandsneurotiker«, dem Podcast der neulandrebellen, Interviews mit Daniele Ganser, Lisa Fitz, Ulrike Guérot, Gunnar Kaiser, Dirk Pohlmann, Jens Berger, Christoph Sieber, Norbert Häring, Norbert Blüm, Paul Schreyer, Alexander Unzicker und vielen anderen. Zusätzlich veröffentlicht er Texte auf verschiedenen Plattformen.
die kurzgeschichte hat mir sehr sehr gut gefallen.
ich wünsche ihnen und ihrer familie alles gute in russia.
Ja, Russland – Land der unendlichen Möglichkeiten Sehnsuchtsort – aber auch ein ewiges Rätsel.
Tipp für die Einreise: 200km weiter nördlich über Estland, da geht es (mit Terminvereinbarung) schneller, trotz Umweg.
Aber immerhin: An der lettischen Grenze stand ich letztes Jahr vier Tage, Sie waren also doppelt so schnell…
Den Stress bei der Einreise hat man nur beim ersten Mal – bei der Wiederholung wird es eher lustig weil man weiß was einen erwartet.
Gut lesbar, nix beschönigt und die alex story ist ein paradebeispiel fuer grenzenlose dummheit.
Sehe den berichten aus russland abwartend entgegen.
Lieber Herr Wellbrock,
schon während des Lesens Ihrer Zeilen stellte sich großes Mitleid für Sie ein. Und, ja, ich hatte als Leser mitunter auch tatsächlich die Sorge, dass es mit der Auswanderung nicht klappen könnte. Und auch wenn es spannend zu lesen war, das ist doch wirklich nichts, was man jemandem wünscht Insofern kann es ab jetzt ja nur noch besser werden. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie alles Gute für die Zukunft.
Herzliche Grüße aus Niederbayern
Helmut Hafner
Trotz der Dramen konnte ich auch herzhaft lachen. Wenn ich die Hinweise des Tages gelesen habe war dieser Bericht eine
Erfrischung. Ich habe bei der Lufthansa einmal gearbeitet. Ich würde nur in absoluter Not einen Hund in den Frachtraum geben.
Es kann vorkommen, das Tiere – wegen falscher Beladung – erstickt sind, oder der Pilot vergessen hat, den Frachtraum zu
klimatisieren. Es kann auch vorkommen, das man vom Bodenpersonal ihm dies nicht mitgeteilt wurde, dass ein Tier im Frachtraum ist.
Liebe Grüße
Agnes Fink
Obgleich ich mit Russland als Gastland liebäugele und mittlerweile ganz passabel Russisch spreche, schreckt mich vor allem Eines ab: Es ist mir dort größtenteils zu kalt. Moskau und Piter müssen im Sommer wunderschön sein, aber im Winter will ich dort nicht sein. Doch als Hamburger wird Tom Wellbrock dieses Problem vielleicht nicht haben.
Trotzdem wünsche ich mir ein ehrliches Bild von diesem Land, in das gerade so schwer zu kommen ist. Daher wünsche ich mir, dass Tom Wellbrock zukünftig häufig vom Alltag und seinen Erlebnissen in Russland berichtet.* Die anderen Ausgewanderten (GEU, Henn) halten sich diesbezüglich leider bedeckt.
* Am besten bei RT oder den Neulandrebellen. Stichpunkt kannte ich bislang noch gar nicht.
Sehr geehrter Herr Lehmann,
dann ist es ja umso besser, dass Sie uns entdeckt haben. Viel Freude weiterhin beim Lesen unserer Inhalte.
Ja, die Liebe zum Hund kennt keine Grenzen :)..