Die EU-Wahl steht an und allerorts wird eindringlich dazu aufgerufen, wählen zu gehen. Zahlreiche Parteien haben sich den „Kampf gegen Rechts“ auf die Fahnen geheftet. Doch sind Wahlen tatsächlich das Mittel der Wahl? Und was hat es mit dem vielbeschworenen Rechtsruck auf sich? Demokratie = Wählen gehen. So lautet die Zauberformel in Ländern, die sich als demokratisch einstufen. Doch diese Rechnung geht schon lange nicht mehr auf: Immer mehr Bürger verweigern den Weg zur Wahlurne, viele misstrauen zunehmend politischen Parteien.
Dass es Alternativen zu Wahlen gibt, wird dagegen kaum thematisiert. Der Historiker und Autor David Van Reybrouck sagt: “Ich fand es schon immer seltsam, dass wir seit 3000 Jahren eine Demokratie haben und erst seit 200 Jahren wählen wir – und dennoch setzen wir plötzlich Wahlen mit Demokratie gleich. Bei Wahlen kann sonst was herauskommen, bei Wahlen können auch Diktatoren gewählt werden.” In seinem Buch „Gegen Wahlen“ stellt Van Reybrouck die Frage: Wie kann überhaupt eine Demokratie effizient arbeiten und langfristig tragfähige Entscheidungen treffen, wenn die Politiker ihr Handeln vor allem an einem Ziel ausrichten müssen: Bei der nächsten Wahl wiedergewählt zu werden?
Als Alternative nennt Van Reybrouck das Losverfahren, das nicht nur im antiken Athen angewandt wurde. In frühen Republiken wie Venedig oder Florenz bis hin zur Französischen Revolution wurden politische Entscheider per Los ausgewählt.
Illusion von Demokratie
Dass die repräsentative Demokratie nicht das Maß aller Dinge ist, wird immer deutlicher. Der Wahrnehmungspsychologe Rainer Mausfeld bezeichnet sie in seinem Buch „Warum schweigen die Lämmer?“ sogar als Mittel zur Verhinderung von Demokratie. „Wahlen sind nur ein vergleichsweise nebensächlicher Aspekt der demokratischen Willensbildung“, schreibt Mausfeld. „Von den jeweiligen Machteliten werden sie jedoch gerne – unter Vernachlässigung und Missachtung entscheidender Kernelemente der demokratischen Leitidee – in den Vordergrund gestellt, weil sie besonders geeignet sind, im Volk eine Illusion von Demokratie und von Volkssouveränität zu erzeugen.“
Die Corona-Krise hat gezeigt, dass in Zeiten autokratischer Regierungsentscheidungen die Demokratie innerhalb der Gesellschaft aufblüht. Vereine wurden gegründet, Demonstrationen und Aktionen angemeldet, Vernetzung fand statt. Eine wachsende Anzahl an Bürgern setzte sich mit Grundrechten auseinander und beeinspruchte willkürliche Gesetzesänderungen. Das Interesse an direkter Demokratie sowie die Bereitschaft, sich selbst einzubringen, ist seit jener Zeit beträchtlich gestiegen.
Die rechte Ecke
Dass viele Kritiker von politischen Entscheidungen während jener Zeit pauschal als „rechts“ oder gar „rechtsextrem“ verurteilt wurden, lässt den nun propagierten „Kampf gegen Rechts“ fragwürdig erscheinen. Denn einen politischen Begriff derart unreflektiert einzusetzen, macht es schwierig, tatsächlich Rechtsextreme, und damit die wahren Gefährder der Demokratie, auszumachen. Und diese haben sich die Entwicklungen der letzten Jahre zunutze gemacht. Die vielen anderen, die in den vergangenen Jahren diffamiert wurden, fragen sich nun womöglich, ob man diese Leute nicht auch zu Unrecht in die rechte Ecke gestellt hat.
Nicht wenige ehemalige Links-Wähler in Österreich tendieren nun zu Parteien wie der FPÖ – weil diese als eine der wenigen Parteien während Corona die Maßnahmen kritisch hinterfragte und sich etwa für Ungeimpfte einsetzte. Linke Parteien, die dagegen still blieben – oder sich sogar beteiligten -, als während der Pandemie Andersdenkende, insbesondere Ungeimpfte, aufs Übelste verleumdet und diskriminiert wurden, heften sich nun den „Kampf gegen Rechts“ auf ihre Fahnen. Und verlieren dadurch an Glaubwürdigkeit.
Gleichgeschaltete Medien
Österreich wurde bereits vor zwei Jahren von einer liberalen Demokratie zu einer Wahldemokratie heruntergestuft. Das bedeutet, dass sich die demokratische Partizipation der Bevölkerung auf das Abgeben einer Stimme bei Wahlen beschränkt und das Volk an demokratischen Prozessen kaum beteiligt ist.
„Gründe dafür sind gleichgeschaltete Medien, reduzierte Gewaltenteilung sowie Angriffe auf die Justiz“, erklärt Erwin Mayer von der Initiative Mehr Demokratie. Weltweit gehe der Anteil an demokratischen Staaten zurück: „Derzeit leben mehr Menschen in Autokratien als in Demokratien – Tendenz stark steigend.“
Ausnahmen seien skandinavische Staaten oder die Schweiz. „Die Schweiz zählt zu den demokratischsten Staaten überhaupt“, ist Mayer überzeugt und verweist auf die große Zahl der Bürgerräte.
Im September 2021 wurde in Österreich der erste bundesweite Bürgerrat in Österreich zum Thema Demokratie durchgeführt. Er zeigte ein klares Bild: Bürger wollen und sollen besser eingebunden werden – über Wahlen hinaus.
Über den Autor
Susanne Wolf
Susanne Wolf ist freie Journalistin und Autorin und begleitet schreibend den aktuellen gesellschaftlichen Wandel. Sie hat sich dem konstruktiven Journalismus verschrieben, der sich bei all den Herausforderungen unserer Zeit auf die Suche nach möglichen Lösungen macht. Dabei bleibt sie immer dem journalistischen Grundprinzip des kritischen Hinterfragens treu.