Verständlich ist, dass der Homo sapiens auf dieser Welt irgendwo seinen Platz haben will. Dass er sich dabei zu der Überzeugung aufgeschwungen hat, er sei die „Krone der Schöpfung“ ist natürlich maßlos übertrieben. Aber auch das ist charakteristisch für den Menschen, er neigt zur Übertreibung. Und außerdem dazu, sich schnell gekränkt zu fühlen. Das erkannte auch Sigmund Freud.
Der österreichische Psychoanalytiker sprach von drei großen Kränkungen der Menschheit. Demnach wurde die erste Erschütterung durch Nikolaus Kopernikus ausgelöst, der die Entdeckung machte, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Universums ist. Charles Darwin legte mit einer nächsten Kränkung nach, indem er in seiner 1859 veröffentlichen Evolutionstheorie nachweisen konnte, dass der Mensch vom Affen abstammt. Und Freud selbst, Kränkung Nummer drei, kam zu dem Ergebnis, dass der Mensch von unbewussten Vorgängen, etwa Trieben, gesteuert werde, und also nicht Herr im eigenen Haus sei.
Inzwischengibt es diverse Vorschläge zu weiteren großen Kränkungen der Menschheit.Dazu zählt auch die Existenz der Künstlichen Intelligenz. Dass computergesteuerte Systeme den Menschen überflüssig machen könnten, nagt an dessen narzisstischem Selbstverständnis. Die britische Philosophin und Roboter-Ethikerin Paula Boddington befürchtet gar, er könnte, sollte sich seine Entbehrlichkeit bewahrheiten, in eine existenzielle Sinnkrise geraten.
In ihrem Buch „Towards a Code of Ethics for Artificial Intelligence“ beschreibt sie ein mögliches Szenario: „Wenn alle Probleme gelöst sind, wenn du unendlich viel Freizeit hast, weil eine Maschine den Liebesbrief an deine Liebste besser schreibt als du das kannst, und ein Roboter die sexuellen Wünsche deiner Geliebten besser erfüllt als du, und die Version von „Krieg und Frieden“, die durch Roboter geschrieben und verfilmt wurde, besser ist als diejenige von BBC, dann wirst du dich wahrscheinlich zu fragen beginnen, warum du am Leben bist.“
Ist Künstliche Intelligenz tatsächlich eine Bedrohung? Oder brauchen wir die KI, um uns bedroht zu fühlen? Es scheint, als lebten wir in Zeiten, in denen wir immer eine nächste Apokalypse herbeireden müssen, um uns emotional genug ausgelastet zu fühlen. Was aber, wenn die Angst vor derTerrorherrschaft der Künstlichen Intelligenz nur eine Nebenwirkung ist von übermäßigem Science-Fiction-Konsum? Was, wenn sie überhaupt nicht berechtigt ist?
Ein Mensch, der sich mit KI vergleicht, mag das Gefühl haben, er würde verschwinden, weil er weniger leistet, zugleich verschwindet er auch deshalb, weil er sich zum Vergleichsgegenstand macht. Der Schriftsteller Peter Handke dachte in einem Essay über die Frage nach: „Wie kommt es zu dieser Sucht, vergleichen zu müssen?“ Darin schlussfolgerte er, man würde unfähig, den durch den Vergleich abgewerteten Gegenstand wahrzunehmen: „Es zeigt sich also, dass Vergleiche vor allem dazu dienen, den verglichenen Gegenstand mit einem Satz wegzureden: jede weitere Beschäftigung mit ihm erübrigt sich: er existiert nur noch als Vergleichsgegenstand.“ Wollen wir das, wollen wir nur noch als Vergleichsgegenstand existieren – und damit aufhören zu existieren?
Wozu überhaupt die ganze Aufregung? Paula Boddington verweist darauf, dass das menschliche Gehirn nicht adäquat zu einem Computer gesetzt werden kann. Da menschliche und künstliche Intelligenz ganz unterschiedlich funktionieren, sei bereits der Name nicht besonders geglückt. Zudem fällt in vielen KI-Debatten oft unter den Tisch, dass KI ohne ihren Schöpfer, also den Menschen, einpacken könnte. KI kann nur können, was der Mensch schon gedacht hat und nur Informationen verarbeiten, mit denen sie gespeist wird. Anders gesagt: Die Erzählung, es handle sich bei KI-Systemen um völlig autonome Technologien, ist nichts weiter als ein Mythos.
Dass Unternehmen, die damit ihr Geld machen, kein Interesse daran haben, dass der Mythos an Glanz verliert, versteht sich von selbst. Also muss er aufrechterhalten werden.
Aber wir können ihn zerstören. Es ist unsere Entscheidung, ob KI zu dem Dämon wird, als der sie derzeit beschworen wird.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.