Dieser Text von Jan David Zimmermann wurde bei der Preisfrage der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2022 eingereicht. Das Thema der Ausschreibung lautete “Wie gehen wir mit Wissenschaftsskepsis um?” und fragte nach essayistischen Beiträgen. Schon der Ausschreibungstext signalisierte allerdings, dass Skepsis offenbar nicht erwünscht ist, was eigentlich dem Prinzip der Wissenschaftlichkeit selbst widerspricht. Daher war abzusehen, dass der eingereichte Text nicht angenommen wird.
Skepsis als Fortschritt
„Objektivität ist die Wahnvorstellung, Beobachtungen könnten ohne
– Heinz von Förster
einen Beobachter gemacht werden.“
Wie gehen wir mit Wissenschaftsskepsis um? Die Antwort ist denkbar einfach und kurz: Wir nehmen Sie ernst und integrieren sie endlich in unser gesellschaftliches Bild von Wissenschaft. Das mag aus der Position mancher wissenschaftlichen Disziplinen und vermutlich vor allem vonseiten der Medien zuerst irritierend klingen, ist es aber nicht. Denn wie wir wissen, existieren seit geraumer Zeit – man könnte sagen seit ca. 70 Jahren – Disziplinen, die eben dies tun: sich kritisch und reflexiv – und somit skeptisch mit Wissenschaft auseinandersetzen. Gemeint sind die Disziplinen der Wissenschaftsgeschichte, der Wissenschaftssoziologie, der Wissenssoziologie und der Wissenschaftstheorie (auch: Wissenschaftsphilosophie), oftmals kurz und bündig Science Studies oder Wissenschaftsforschung genannt.
Wir sollten uns eigentlich noch daran erinnern können, dass die Kritik an Wissenschaft eine Zeit lang eine Selbstverständlichkeit war, nämlich von den 1960er bis mindestens in die 1980er Jahre. Danach wurde die Skepsis langsam abgebaut und durch erneute Wissenschaftsgläubigkeit ersetzt.
Viele Beschäftigungsfelder der Science Studies und verwandter Disziplinen hatten nun auch damit zu tun, dass sie mehr oder weniger eine Reaktion auf die abgründigen Kontexte von Wissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellten. Ein szientistisches Weltbild mit Wissenschaft und Technologie als quasireligiöse Heilsversprechung, wie sie seit Beginn der industriellen Revolution vorherrschte, wurde sukzessive infrage gestellt; Materialismus und sturer Rationalismus – letztlich ein Erbe der Aufklärung – sowie naiver Fortschrittsglaube und Positivismus wurden in Philosophie und Theorie von Denkerinnen und Denkern wie Jürgen Habermas, Herbert Marcuse, Theodor Adorno, Hannah Arendt, Paul Feyerabend, Michel Foucault, Ivan Illich und vielen anderen kritisch hinterfragt. Insbesondere nach 1945 als Endpunkt des Zweiten Weltkriegs hatte man sich der ethischen und erkenntnistheoretischen Grenzen von Wissenschaft mehr und mehr angenommen.
Eine kritische, nein, skeptische Reflexion über Wissenschaft (und Wissensproduktion) bekam mit der 68er-Generation besonderen Aufwind: Umweltschutz, Umweltzerstörung und die Aufarbeitung der NS-Greuel waren dabei zentrale Themen, ebenso wie antipsychiatrische Bewegungen und kritische Studien zum Gefängniswesen. In den USA wiesen breite Bürgerrechtsbewegungen auf die systematische Benachteiligung und Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung hin und der Ausbruch des Vietnamkriegs führte zu einer fundamentalen Kritik am amerikanischen Imperialismus. Auch der lange Schatten des Kolonialismus wurde erstmals diskutiert. Die Rassenkunde des späten 19. Jahrhunderts und die völkischen Wissenschaften der 1920er und 1930er Jahre zeigten auf, wie gängig Rassismus und (Deutsch-)Nationalismus in der Wissenschaft war. Das lückenlose Weiterwirken von wissenschaftlichen Protagonisten des Nationalsozialismus im Staatsdienst und in der Universitätslandschaft Österreichs und Deutschlands verwiesen auf eine Notwendigkeit der Aufarbeitung.
Die Verwendung von Giftgas in den Gräben des 1. Weltkriegs, die Entwicklung von Zyklon B und seiner Verwendung in den Gaskammern der Nationalsozialisten riefen in Erinnerung, wie schnell Mittel zur Schädlingsbekämpfung gegen Menschen verwendet werden konnten, wenn man diese nur semantisch zu Schädlingen und Ungeziefer umdeutete. Medizinische Menschenversuche in Konzentrationslagern zeigten auch auf, wie lange schon die Medizin am schmalen Grat zwischen Frankensteinforschung und seriöser Wissenschaft wandelte. Deutsche Linguistik und Volkskunde waren von Beginn an im Dienste deutschnationaler und nationalsozialistischer Kräfte unterwegs, taten sich mit Sprachaufnahmen in KZs und Gefangenenlagern hervor und waren damit weit mehr als nur Lieferanten einer völkischen Ideologie: sie legitimierten und unterstützen NS-Expansions- und Bevölkerungspolitik. Die Nürnberger Rassegesetze machten zur Gewissheit, dass das Recht leicht im Sinne entgleister Forschung ausgelegt werden und wie fatal die juristische Festsetzung von Diskriminierung und Rassenwahn sein konnte. Die rassistischen Anthropologien des Imperialismus, Kolonialismus und Nationalsozialismus zeigten auf, wie weit verbreitet der Glaube an den Herrenmenschen eigentlich war und dass es sich nicht nur um nationale Phänomene handelte. Und mit der Innovation der Kernspaltung und den Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki wurde schließlich klar: all dies zeigte die potenzielle Zerstörungskraft von Wissenschaft und machte die enge Verbindung von Wissenschaft, Politik und Industrie/Militär offenkundig.
Weiter ging es mit rezenten Beispielen wie dem Entlaubungsgift Agent Orange im vietnamesischen Dschungel, mit der brutalen Verstümmelung von psychisch Kranken mittels Lobotomie bis in die 1960er Jahre oder mit Medikamentenskandalen wie Contergan oder Duogynon.
All diese Geschehnisse können nicht dadurch ausgehebelt werden, dass man versucht, die Vorteile von Wissenschaft aufzuzählen, denn es ist klar: ohne moderne Wissenschaft und Technik können wir nicht überleben. Der Autor dieser Zeilen hat mithilfe moderner Technik diesen Aufsatz geschrieben und dazu recherchiert. Ihm geht es wohl auch aufgrund moderner Medizin gesundheitlich sehr gut. Die Errungenschaften vieler Impfungen sind unbestreitbar, die Vorzüge von Antibiotika, Telefonkabeln, Internet, guter Verkehrsanbindungen und verlässlicher Ampelschaltungen nicht zu leugnen. Aber all dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass man die Wissenschaft nicht absolut setzen darf, dass Wissenschaft nicht zu einer Religion werden darf, wo man den Experten wie Priestern zuhören muss. Es sollte klar sein, dass Wissenschaft (nur) ein soziales Teilsystem der Gesellschaft ist, mit Lobbyismus, Karrierismus und manchmal leider auch mit krimineller Energie. Dass Universitäten und Akademien oft auch Brutstätten des Konformismus und der Tradierung, nicht aber der Innovation sind. Dass es eben genau die Arbeit von Wissenschaftsforschenden ist, Zusammenhänge nachzuvollziehen und Abhängigkeiten, Befangenheit und Verbindungen von Wissenschaft und Politik aufzuklären und zu analysieren. Es sollte einleuchten, dass Wissenschaft nicht von einem absoluten (archimedischen) Punkt aus operiert, sondern immer eingebettet ist in die Kontexte und Produktionsbedingungen ihrer Ermöglichung oder Verunmöglichung, dass es aus erkenntnistheoretischer Sicht keine Fakten im Sinne der fragwürdigen Praxis von Faktencheckern gibt. Es sollte auch klar sein, dass es nicht DIE Wissenschaft gibt, sondern viele verschiedene Lehrmeinungen.
Und es gibt Momente, wo wir das Mensch-Sein nicht an den Werkzeug-Gebrauch koppeln müssen, sondern an die Fähigkeit zur Empathie und Schöpfungskraft. Es gibt Momente, wo wir in ein Notizbuch kritzeln sollten, statt in die Tasten eines Laptops zu hacken. Es gibt einen Punkt, an dem wir als Menschen die Wissenschaft als Technik nicht weiter brauchen, an dem wir auf Heilpflanzen statt auf Pharmaprodukte zurückgreifen können, an dem wir eine Hausgeburt machen, anstatt Frauen im Krankenhaus via Kaiserschnitt entbinden zu lassen. Es gibt Situationen, in denen Menschen keine (weitere) Impfung benötigen, in denen es keinen Sinn mehr ergibt, Masken zu tragen, in denen zu viel Technik und Kontrolle 4 uns den Kopf vernebeln, in denen wir lieber mit dem Rad statt mit dem Auto fahren sollten. Es gibt einen Zeitpunkt, wo uns zu viel Technik, zu viel Medizin, zu viel Verlust von Verfügung über den eigenen Körper eher krank als gesund macht.
Naiver Positivismus oder totalitärer Law-and-Order-Rationalismus, die sich durch Phraseologismen wie „Trust Science“ oder „Follow the Science“ ausdrücken, sind ganz sicher kein Bestandteil der Wissenschaftsforschung. Warum sollten sie also Bestandteil des öffentlichen Bildes von Wissenschaft sein?
Die Corona-Pandemie mit ihrer katastrophalen Berichterstattung vonseiten etablierter Medien hat mehr als überdeutlich gezeigt, dass nicht primär die sogenannten Verschwörungsmythen, sondern vor allem ein überbordender Szientismus die Gesellschaft spaltet und erst dazu führt, dass gesunde Wissenschaftsskepsis sich in manchen Fällen zu einer fundamentalen Wissenschaftsfeindlichkeit entwickelt.
Sowohl echte Wissenschaftsfeindlichkeit als auch Szientismus sollten als Ideologien abgelehnt werden. Wer jedoch gegen den Skeptizismus vorgeht, der geht gegen ein Idealprinzip des Wissenschaftlichen selbst vor. In einer wissenschaftsbasierten Gesellschaft benötigen wir fundierte Wissenschaftskritik (und damit: Skepsis) aber mehr denn je.
Über den Autor
Jan David Zimmermann ist Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftsforscher. Seine Essays und Beiträge erscheinen unter anderem in der Berliner Zeitung, Cicero, oder dem Stichpunkt Magazin.