Als ich am Tag nach dem Eurovisions Song Contest auf meine Facebook-Timeline sah, war die voll von Beiträgen zum Schweizer Sieger Nemo. Die meisten Posts waren hasserfüllt, beleidigend, nur wenige bezogen sich auf Nemos offensichtliches musikalisches Talent. Der Großteil stammte aus meiner Generation, viele klangen verbittert. Ich fragte mich: Wo ist die Toleranz geblieben, die Anerkennung von Vielfalt, sowohl musikalischer als auch menschlicher? Da für mich immer die Würde des Menschen im Vordergrund steht, postete ich meine Meinung dazu. Und war nicht auf die Fülle an Reaktionen vorbereitet – zu einem Thema, das offensichtlich bewegt und polarisiert.
Abgesehen davon, dass die musikalische Qualität des ESC kritisiert wurde oder die Tatsache, dass dieser für politische Zwecke missbraucht wird, ging es vor allem um Nemos Outing als non-binär. Mir fiel auf, dass da von Ideologie und Manipulation die Rede war, dass junge Menschen einer Gehirnwäsche unterzogen würden.
Was sich wie ein roter Faden durch die Kommentare zog, war vor allem eines: Angst.
Die Welt ist voll von Feindbildern: die Rechten auf der einen Seite, Woke und Eliten auf der anderen. Was macht das mit uns, wenn wir überall Gefahr und Manipulation wittern? Wenn es offensichtlich keinen Bereich mehr gibt, in dem wir uns sicher fühlen können – ob das nun Gesundheit, Klima ober eben die Zuordnung zu einem Geschlecht ist? Es führt dazu, dass wir ständig in Angst leben. Wer in Angst lebt, kann leicht die Menschlichkeit aus den Augen verlieren – so wie es bei den Angriffen auf Nemo geschah.
Das beste Mittel gegen Angst ist, sich für Eigenverantwortung zu entscheiden. Wenn Eltern sich sorgen, ihre Kinder könnten hinsichtlich Sexualisierung und Geschlechterrollen manipuliert werden, liegt es an ihnen, dagegen zu steuern und ihre Kinder zu selbst denkenden Menschen zu erziehen. Während Corona nahmen viele besorgte Eltern ihre Kinder aus der Schule, weil sie die Maßnahmen nicht mittragen wollten. Seitdem wächst die Bewegung von Menschen, die Alternativen bei der Bildung umsetzen – sie gründen Lerngruppen oder freie Schulen, ermöglichen ihren Kindern freies Lernen.
Wir leben in einer Zeit des Wandels, vieles verändert sich gerade in einem rasanten Tempo. Und hier kann uns die junge Generation als Vorbild dienen. Ich lerne immer mehr junge Menschen kennen, die ganz offensichtlich nicht anfällig für Manipulation sind, die ihre eigenen und ganz neuen Wege gehen. Ich höre aus den Erzählungen meiner bald 20-jährigen Tochter heraus, dass Rollenbilder und Geschlechterrollen in ihrer Generation zunehmend verschwimmen. Dass viele junge Menschen genau die Toleranz leben, von der die ältere Generation so gerne spricht. Mein 25-jähriger Sohn meint: „Wenn Nemo tatsächlich in einer Identitätskrise stecken sollte, braucht er Empathie und keinen Hass. Egal, ob das von oben gesteuert ist oder nicht.“
Gerade in der Generation Z gibt es eine große Bereitschaft, sich für alternatives Denken zu öffnen.
Neulich erzählte mir eine junge Bekannte, dass sie sich nach zwei Jahren Nomadenlebens auf der kanarischen Insel La Palma niederlassen möchte – weil dort in ihrem Bekanntenkreis viel Neues im Entstehen sei. Sie sprach von ihrem „Tribe“, und mir wurde klar, dass es genau darum geht: uns mit Gleichgesinnten zu vernetzen, um neue Wege zu gehen. Und so aus der Angst zu kommen.
Es liegt an UNS, etwas zu verändern.
Über den Autor
Susanne Wolf
Susanne Wolf ist freie Journalistin und Autorin und begleitet schreibend den aktuellen gesellschaftlichen Wandel. Sie hat sich dem konstruktiven Journalismus verschrieben, der sich bei all den Herausforderungen unserer Zeit auf die Suche nach möglichen Lösungen macht. Dabei bleibt sie immer dem journalistischen Grundprinzip des kritischen Hinterfragens treu.