Was kaum oder nur schwer ertragbar ist, seien es weltweite Katastrophen oder die ganz persönlichen Leidensgeschichten, stellt uns jedes Mal vor die Entscheidung: sollen wir hinsehen oder wegschauen? Für die österreichische Dichterin Ingeborg Bachmann gab es keinen Zweifel. Statt eines Fragezeichens setzte sie einen Punkt: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar“. Nur: Was eigentlich ist die Wahrheit? So leicht der Begriff daher gesagt ist, so leicht ist es freilich nicht mit ihm. Die Frage nach der Wahrheit gehört nicht ohne Grund zu den zentralen Problemen der Philosophie.
Beginnend bei Aristoteles, der feststellte, eine Aussage sei wahr, wenn sie mit dem Sachverhalt, der sie beschreibt, korrespondiere, über Hegel, der überzeugt war, dass wir nie zur ganzen Wahrheit vordringen könnten, was aber wiederum das Indiz für Wahrheit sei, müssen wir heute darüber nachdenken, ob etwas deshalb wahr ist, nur weil wir es fotografieren, filmen, aufschreiben und in sozialen Netzwerken weiterverbreiten. Und allerorten tobt der Kampf um die Deutungshoheit über das, was wahr sei und was nicht.
Geht man es weniger radikal an wie Ingeborg Bachmann, ist überdies schwer zu beantworten, wem was zumutbar ist. Hilft Wegschauen, wenn sonst nichts hilft? Vielleicht denken wir, nur überleben zu können, indem wir verdrängen. Vielleicht brauchen wir diesen Schutz für einige Zeit, vielleicht permanent. Auch wer sich verweigert, hat seine Gründe. Was nicht heißt, dass es mildernde Umstände gibt. Es ist und bleibt dies unsere Pflicht: hinzusehen. Man nennt das auch humanistische Verantwortung.
Damit, wie es der deutsche Philosoph Theodor W. Adorno formulierte, „Auschwitz sich nicht wiederhole“. Sein 1966 erschienenes Manuskript „Erziehung nach Auschwitz“, heutzutage nicht minder dringlich, beginnt mit den Worten: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“ Man müsse die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machten, dass sie solcher Taten fähig würden: „Für das Allerwichtigste gegenüber der Gefahr einer Wiederholung halte ich, der blinden Vormacht aller Kollektive entgegenzuarbeiten, den Widerstand gegen sie dadurch zu steigern, dass man das Problem der Kollektivierung ins Licht rückt.“
In Florian Henckel von Donnersmarck Film „Werk ohne Autor“ gibt eine Tante ihrem fünfjährigen Neffen einen entscheidenden Satz mit auf den Weg: „Sieh nicht weg.“ Wenig später wird sie in einen Krankenwagen gezerrt – und von den Nazis in der Gaskammer ermordet. Der Junge wird Zeuge des Abtransports, er sieht, dass sich die Tante heftig wehrt, er sieht ihre Panik, er sieht ihre Verzweiflung.
Was haben wir gesehen, was wir lieber nicht gesehen hätten? Haben wir Worte dafür gefunden? Pathogen, also potentiell krankmachend, wirkt Leiden, das nicht zur Sprache kommt. Trotzdem gibt es in vielen Familien ein, bisweilen über mehrere Generationen, diktiertes Schweigen über scham- und angstbesetzte Themen wie unter anderem früh verstorbene Kinder, Inzest, Vergewaltigungen, Heimeinweisungen, Gewaltverbrechen und Selbsttötungen einzelner Familienmitglieder. Mitunter müssen die nachfolgenden Generationen unter den nicht oder nur unvollständig aufgearbeiteten Traumata ihrer Eltern, Großeltern und Urgroßeltern leiden, etwa unter den Folgen wie Gefühlskälte, Unnahbarkeit und Depression.
Ja, Aufarbeitung fällt schwer. Aber es ist ebenso notwendig wie möglich, eine Kultur zu schaffen, in der alles, was Wunde ist, gesehen und benannt werden darf. In der Wunde ist die Wahrheit unausweichlich. Wir Menschen sind begabt genug, uns dem zu stellen. Und alchimistisch damit umzugehen – wir können das Blei der Traumata in Gold verwandeln.
Über den Autor
Sylvie-Sophie Schindler
Sylvie-Sophie Schindler, ist in Oberbayern aufgewachsen. Sie ist in Schauspiel, Philosophie und Pädagogik ausgebildet und hat weit über 1.500 Kinder auf ihrem Entwicklungsweg begleitet. Als Journalistin begann sie bei der Süddeutschen Zeitung, war jahrelang als Lokalreporterin für den Münchner Merkur tätig und belieferte Medien wie stern, VOGUE und GALORE mit ihren Texten. Zig tausend Artikel später orientierte sie sich im Journalismus neu, um frei und ohne Agenda schreiben zu können. Aktuell veröffentlicht sie unter anderem für die WELTWOCHE und Radio München. Sie ist Trägerin des Walter-Kempowski-Literaturpreises. Mit ihrem YouTube-Kanal DAS GRETCHEN will sie die Dialogbereitschaft stärken. In Vorträgen und in Netzwerken setzt sie sich für neue gesellschaftliche Wege ein, die auf Selbstorganisation, Herzoffenheit und freiem Denken gründen.