von Michael Nussbaumer
Die Wahrnehmung, dass wir in einer Zeit des Wandels, der Wendung leben, wird zum Allgemeingut. „Es kann nicht so bleiben, wie es ist“, Zeitenwende, große Transformation, „das Ruder herumreißen“, so oder ähnlich tönt es von vielen Seiten.
Darüber könnte ich als jemand, der seine Arbeit seit 2011 explizit unter das Motto der Kulturtransformation gestellt hat, glücklich sein. Doch wird die Einsicht in die Unausweichlichkeit eines tiefgreifenden Wandels verknüpft mit einem Handeln, das Wandel vermeidet, jedenfalls bei den „Eliten“ aller Couleur. Sie verstärken genau jene Elemente massiv, die eine Kehrtwende erst notwendig gemacht haben! Hier geht es also nicht darum, sich wirklich wandeln zu lassen, sondern mit allen Mitteln diese Wandlung zu verhindern. Es wird weiter fort geschritten, weg von den irdischen und spirituellen Grundlagen des Lebens: More of the same. Wie eine Raupe, die mehr und mehr frisst und sich weigert, sich in einen Kokon einzuspinnen und sich dem Wandel in einen Schmetterling hinzugeben.
Jedoch, wenn ich den Blick weite, kommt der tröstende Gedanke auf, dass auch diese Verstärkung des Problems ein wesentlicher Beitrag zu einem echten Wandel sein mag.
Mit was haben wir es zu tun, bei dieser forcierten Veränderung ohne Bereitschaft zur Hingabe an Transformation? Gewalt durch abgetrenntes und abtrennendes Denken, das ist eine Möglichkeit dieser lebensfeindlichen Ausrichtung, die derzeit ins Extrem getrieben wird, zu benennen. Um zu verdeutlichen, was ich damit meine und auf die Alternativen hinzuweisen, werde ich diese andauernde Gewaltsamkeit anhand zweier zentraler Themen der Gegenwart beschreiben. Damit betrete ich „vermintes Gelände“ – aber genau das ist der Punkt! Warum liegt hier so viel Explosives herum? Wovon soll uns das abhalten?
Wie du zu sein hast
In meiner Kindheit in den Siebzigern des vorigen Jahrtausends war der Bereich des „So bist du richtig“ extrem verengt. Ich erinnere mich, dass niemand neben „der Rothaarigen“ sitzen wollte (ich als Neuer in der Klasse „musste“ dann) oder dass es schon genügte, ein zu kleiner, zu dicker oder zu mädchenhafter Junge zu sein, um fertiggemacht zu werden. Schwul war ein selbstverständlich gebrauchtes Schimpfwort, von anderen Religionen als der römisch-katholischen oder anderen Nationalitäten brauchten wir gar nicht erst anfangen, das war in dem Landstrich, in dem ich aufgewachsen bin, allenfalls geduldet, aber im Grunde doch inakzeptabel, ebenso wie andere Familienformen abseits der Ehe von Mann und Frau. Es war, sozial und emotional gesehen, gefährlich, irgendwie anders zu sein als es eine schmale Norm vorgab (die nicht immer explizit formuliert, aber doch weitgehend bekannt war) – und für viele Menschen war es dennoch unvermeidlich dieser Norm nicht zu entsprechen, einfach weil sie waren, wer sie waren. Aber im Grunde hing dieses Schwert der Ausgrenzung und Abwertung über allen. Wer schafft es schon, immer so zu sein, wie man zu sein hat? Gerade bei der größten Bereitschaft zur Selbstverleugnung drängt das Unterdrückte mit großer Kraft zum Ausdruck! Obwohl: Gleichzeitig wurde Menschen in Machtpositionen fast alles nachgesehen. Lehrer, Pfarrer, Ärzte oder Bürgermeister konnten kinderhassende, machtmissbrauchende Alkoholiker sein, ohne dass das ihrer Autorität groß Abbruch getan hätte.
Aus diesen Erfahrungen heraus und weil ich die Verbindung zu meinem inneren Sein wahren konnte, habe ich daran gearbeitet, das Spektrum des Erlaubten zu vergrößern, mich gegen Diskriminierung aller Art zu engagieren und zugleich das Agieren von Menschen in Machtpositionen mit ethischen Maßstäben zu bewerten. Denn, dass wir unserer Natur Gewalt antun, wenn wir uns in unpassende Schablonen pressen (lassen), empfinde ich als offensichtlich. Es schmerzt, weil es nicht unserer Wahrheit entspricht, weil es den Lebensfluss in einer Weise zu begrenzen versucht, der uns in eine verwüstete Seelenlandschaft führt und uns zu stets nach Lebendigkeit Dürstenden macht.
Der Schmerz ist echt, es ist klar, dass sich hier etwas wandeln, weiten, wenden will und der Wandel ist im Gange. Nur, wo sind wir heute gelandet? Es ist wiederum sehr eng geworden, es müssen die korrekten Worte und Bezeichnungen gebraucht werden, die aktuellen Identifizierungen möglichst jeder Art müssen (jedenfalls sprachlich) in genau der aktuell gewünschten Art gewürdigt werden. Das Gelände ist in neuer Art und Weise gefährlich und vermint, „falsche“ Formulierungen und Wahrnehmungen können „Trigger“ auslösen und zu Ausgrenzung („canceln“) führen oder Abbitte erfordern. Ich empfinde es als seltsam und unheimlich, wie der Versuch, einschränkende Kategorisierungen und abwertende Etikettierungen aufzulösen, in eine neue Enge geführt hat, in der ich andere so sehen muss, wie sie gesehen werden wollen, auch wenn das nicht meiner Wahrnehmung entspricht. Wie gesagt, ich weiß, dass ich mich hier in vermintem Gelände bewege, ich spüre es beim Formulieren dieses Textes. Wer missverstehen will, wird das ohnehin missverstehen, auch das ist mir klar. Aber ich sehe den großen Unterschied zu „früher“ nicht, ich spüre die Freiheit im Spiel mit Identitäten nicht, nach der ich mich sehne. Es wird wieder versucht, eine enge und gleichzeitig unscharfe Norm durchzusetzen, es ist wieder gefährlich, sich außerhalb dieser Normen zu bewegen. Ich hatte immer Freude am „gendern“, um ein Beispiel zu nennen, am kreativen Spiel mit der Sprache, am Wechsel von weiblichen und männlichen Formen und auch Sternchen zwischen den Buchstaben finde ich charmant – aber wenn es zu einem Dogma oder einer Pflicht wird, ist eine Starrheit durch die andere ersetzt. Damit ist nichts gewonnen.
Der Wunsch, unsere menschliche Vielfalt mit Freude zu leben und zu erfahren, hat sich noch nicht erfüllt und wird sich auf diese Weise auch nicht erfüllen. Wir tun anderen Gewalt an und fühlen uns dazu legitimiert, weil uns Gewalt angetan wurde. Das „Spiel“ von Täter und Opfer bleibt erhalten.
Rette die Welt!
Dem gewaltsamen Umgang mit unserer inneren Natur entspricht der gewaltsame Umgang mit der äußeren Natur. Unser Wirtschaftssystem und vor allem das Finanzsystem sind darauf ausgelegt, dass die Vernutzung und Zerstörung von Natur, die Verwandlung von Natur in Geld naheliegend, ja unausweichlich ist, um auf der Gewinnerseite innerhalb dieses Systems zu sein. Immer neue Felder müssen „aufgeschlossen“ werden, immer tiefer der Zugriff gehen, damit es weitergehen kann, wie bisher. Fortschritt in dieser Hinsicht hat also mit Kehrtwende und Wandlung nichts zu tun, auch wenn sich rasend viel ändern mag.
„Sie sind nicht gekommen, um die Welt zu retten – Sie sind gekommen, um die Welt zu lieben.“
(Anthony de Melo)
Das bereitet uns Schmerz, wir fühlen, dass es uns nicht guttut, blühende Vielfalt in Monokulturen zu verwandeln, lebendige Organismen rein unter dem Nutzenaspekt zu begreifen und so zu tun, als wären wir die Herrscher der Natur und nicht deren Teil. Es tut weh, mit meiner tierliebenden jüngsten Tochter Dokumentarfilme über Tiere zu sehen und wieder und wieder hören zu müssen, dass die Lebensräume verkleinert werden und diese und jene Tierart in der Gefahr des Aussterbens ist. Verzweiflung, Ohnmacht, Trauer kommen auf, dass so viel lebendige Schönheit bedroht ist. Dieser Schmerz wird nun gesellschaftlich sichtbarer, er wird oftmals in Aggression verwandelt, um die Zerstörung zu stoppen. Aber, so leid es mir tut, ich vermag auch darin noch keinen tiefgreifenden Wandel zu erkennen, ich habe sogar den Eindruck, dass dieser authentische Schmerz gekapert und manipuliert wird, für weiteren „business as usual“. Wieder regiert das Prinzip der Verengung, das einer lebendigen Wirklichkeit Gewalt antut. Liebe zur Natur wird verkürzt auf „Klimaschutz“ und der wiederum auf die Reduktion von Kohlendioxid, koste es, was es wolle, und sei es ein weiteres Stück lebendige Vielfalt für ein Windrad.1 Ich glaube keine Sekunde, dass sich durch grüne Technologien allein eine echte Kehrtwende einleiten lässt, und auch nicht, dass ein Kohlendioxidablasshandel etwas prinzipiell transformiert.
Die Erzählung, dass wir Menschen „der Krebs der Erde sind“, dass es zu viele von uns gibt, empfinde ich als Teil der alten, deprimierenden Geschichte. Es spricht keine Liebe daraus und ohne Liebe kann es keinen echten Wandel geben, denn Wandel ist Hingabe und Hingabe kann sich erst einstellen, wenn ich mich dem großen Namenlosen anvertraue und nicht, wenn ich meinen Kontrollgriff noch verstärke.
Sich von Scheinlösungen lösen
Eine Monokultur des Denkens und Wahrnehmens ist immer eine Form der Gewalt und kann nicht der Weg aus der Krise sein; vielmehr ist dieser eingeengte Zugang zum Leben die Krise. Immer wieder wird unser aufrichtiger Schmerz über diese Gewalt manipuliert und gelenkt und mündet in weitere Verengung, weitere Gewalt, weiteren Schmerz.
Der Weg aus der Krise, so paradox das vielleicht klingen mag, liegt in dieser Phase des Wandels darin, langsamer zu werden. Langsamer werden, nicht als Auftrag an sich, sondern indem wir mehr fühlen und wahrnehmen, mehr in uns hinein und in die Welt hinaus lauschen. Indem wir uns all des Ungeliebten in uns annehmen, das Unerhörte hören, können sich neue Wege auftun. Solange wir in der Abwehrreaktion auf eine drängende Gefahr verbleiben, in einer permanenten Alarmstimmung, können wir gar nicht anders, als auf bekannte Muster zurückgreifen. Aber diese Muster haben uns an diesen Punkt geführt, an dem es eine Umkehr braucht. Nicht die Umkehr zu alten Zeiten, sondern die Hinwendung zu alledem, was der verengten Norm, dem eingeschränkten Bild dessen, was wirklich ist und zählt, nicht entsprochen hat. Wenn es ein Gebot der Stunde gibt, so ist es das: Sich dem Ausgestoßenen anzunehmen.
Und es geht nicht darum, die anderen dazu zu bringen, dies zu tun, sondern du selbst bist gefragt, ich selbst bin gefragt.
Dieses langsamer-werden bedeutet spürend zu werden, die Fragen zu hören, die Antworten zu erlauschen, um in unsere Verantwortung kommen zu können und die Spirale der Gewalt zurückwickeln zu können. Es bedeutet NICHT nichts mehr zu tun, vielleicht geht es nicht einmal darum, weniger zu tun. Aber dieses Tun muss aus einer tieferen Quelle kommen, damit Wandlung stattfinden kann.
Und immer, wenn ich in Frustration zu versinken drohe, weil die Dinge sich nicht so entwickeln, wie ich glaube, dass sie sich entwickeln sollten; immer wenn ich Menschen sehe, die im Namen des Wandels gegen den Wandel kämpfen, bleibt mir nur sagen und zu sehen: Auch das gehört dazu.
Das schenkt mir die Gelassenheit, die es braucht, um meine Perspektive klar zu halten – denn diese ist mir gegeben und meine Aufgabe ist es, sie zu verkörpern – und zugleich in der Erkenntnis zu verbleiben, dass es nur eine Perspektive ist, die niemals das Ganze erfassen kann. Mein Geist ist Teil des großen menschlichen Geistes und dieser ist in der momentanen Phase außerstande, nicht „zuzugreifen“, nicht abzuspalten, nicht gegenüberzustellen. Je klarer mir das wird, desto einfacher kann ich vollgültig meinen Standpunkt einnehmen, ohne gezwungen zu sein, andere Standpunkte zu verdammen. Das ist nur scheinbar widersprüchlich: Wenn ich meiner Wahrnehmung traue und ihr Ausdruck verleihe, muss ich mich von anderen Perspektiven nicht mehr so massiv abgrenzen – und ich fühle mich durch sie auch nicht mehr (so) bedroht, muss sie weder canceln, noch verbieten oder als unmoralisch etikettieren. Je sicherer ich meiner selbst werde, desto weniger habe ich es nötig, andere zu bevormunden und zu gängeln.
Ich fühle mich berufen darauf hinzuweisen, dass wir uns nicht durch das Aufputschen von Emotionen, Moralgerede, den Aufbau von Bedrohungsszenarien und stetigem Krisenmodus dafür instrumentalisieren lassen brauchen und sollten, unseren inneren Kompass aufzugeben. Ganz im Gegenteil, wer dazu in der Lage ist, dem sollten diese Strategien ein Anlass sein, noch stärker auf den eigenen Kompass zu vertrauen, hellhörig gegenüber Manipulationsversuchen und gleichzeitig offen für Wandlung zu werden.
Der Autor:
Michael Nußbaumer
https://www.kulturtransformation.net/
- Windpark im Wald. Riesige Windräder im Märchenwald der Gebrüder Grimm. https://www.agrarheute.com/management/recht/riesige-windraeder-maerchenwald-brueder-grimm-605542[↩]
Über den Autor
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